Auf Bundesebene ist die Schuldenbremse noch keine fünfzehn Jahre alt, dennoch hat sie bereits einen zentralen Stellenwert in der Finanzordnung eingenommen und trägt wesentlich zur bundespolitischen Finanzdisziplin bei. So sehr, dass der Bundesrat die Bremse nun ausbremsen will. Kürzlich hat er einen Bericht in Auftrag gegeben, der die Regeln der Schuldenbremse im Sinne einer Lockerung überprüfen soll. Bereits im März hatte CVP-Nationalrat Leo Müller vorgeschlagen, künftige Überschüsse des Bundes nicht mehr für den Schuldenabbau einzusetzen. Die Nettoverschuldung des Bundes sei mit 11% des Bruttoinlandprodukts (BIP) tief genug.

Ist die Situation tatsächlich so rosig wie von der Politik dargestellt? Zwar konnten dank Tiefzinsniveau im Schuldendienst stattliche Summen eingespart werden: Die Zinsausgaben betrugen 2015 weniger als 3% des Budgets, gegenüber noch fast 7% vor zehn Jahren.

Kaum nachhaltig

Es gibt aber mehrere Gründe, an der Nachhaltigkeit dieser Situation zu zweifeln. Den ersten liefert das makroökonomische Umfeld, das von einer schleichenden Deflation geprägt ist. Wenn es heisst, dass hohe Staatsschulden «weginflationiert» werden können, verschärfen negative Inflationsraten umgekehrt die effektive Schuldenlast. Oder mit anderen Worten: Die Realzinsen sind weiter im klar positiven Bereich.

Es geht auch oft vergessen, dass die Schuldenbremse heute nur auf dem expliziten Teil der Staatsverschuldung und nur in der regulären Staatsrechnung greift. Der weitaus grössere Teil der Verschuldung entsteht mittlerweile in den Sozialversicherungen ausserhalb des eigentlichen Bundesbudgets (allen voran bei der AHV). Schätzungsweise 170% des BIP beträgt die kumulierte Lücke zwischen erwarteten Renten und erwarteten Beiträgen. Dies ist eine Herausforderung nicht nur für die AHV selbst, sondern auch für die Bundesfinanzen, denn die Rechnungen der AHV und des Bundes sind eng miteinander verknüpft.

So werden fast 20% der AHV-Renten aus der Bundeskasse bezahlt. Insgesamt sind über 20 Mrd. Fr. der Bundesausgaben direkt an die demografische Entwicklung gekoppelt. Selbst der Bund rechnet damit, dass dieser Anteil wegen der Alterung der Gesellschaft bis 2030 um weitere 5 Mrd. Fr. zunehmen wird – so viel, wie heute die Armee kostet. Zudem ist dieser Wert bereits optimistisch geschätzt: Er nimmt vorweg, dass die Reformvorlage «Altersvorsorge 2020» ohne Verwässerung angenommen wird. Vor diesem Hintergrund von einer tiefen Schuldenlast zu sprechen, mutet anachronistisch an.

Neue Kultur

Die wichtigste Errungenschaft der Schuldenbremse lässt sich gar nicht an Zahlen messen oder durch ökonomische Modelle untermauern: Sie hat die fiskalpolitische Kultur fundamental geändert, ja eigentlich um 180 Grad gekehrt. Noch in den Neunzigerjahren orientierte sich die Fiskalpolitik eher an den Ansprüchen und an gefühlten Notwendigkeiten für staatliche Leistungen als an den vorhandenen Mitteln. Der Saldo war eher ein Residuum, dem (zumindest für lange Zeit) nur bedingt Beachtung geschenkt wurde.

Heute halten es Verwaltung, Regierung und Parlamente hingegen für eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Ausgaben mittelfristig in Einklang mit den Einnahmen entwickeln müssen. Dabei schützt der Fiskalföderalismus als ebenso wichtiges Element in den Kantonen vor einem überbordenden Zugriff auf der Steuerseite.

Selbstbeschränkung, Zurückhaltung und vorsichtiges Abwägen beim Ausbau staatlicher Leistungen sind anders als in den meisten anderen Staaten hierzulande zur Normalität geworden – was nicht heisst, dass über die konkrete Mittelverwendung nicht gestritten werden soll. Das Problem ist, dass eine solche «Staatskultur», wie sie sich in überraschend kurzer Zeit entwickelt hat, ein relativ fragiles Konstrukt ist, läuft sie den logischen Interessen von Politik und Verwaltung doch diametral entgegen.

Hohe Risiken

Dies ist der Grund, weshalb auch schon kleine Schlupflöcher in der Schuldenbremse (wie der Bundesrat sie nun erwägt) ausgeprägte negative Konsequenzen nach sich ziehen können. Denn es braucht nicht viel, um die Kultur der staatlichen Budgetpolitik ins alte Fahrwasser zurückzuführen.

Die volkswirtschaftlichen Risiken wären in diesem Fall wesentlich grösser als der Nutzen aus einer angeblich grösseren fiskalischen Flexibilität. Letztlich braucht es kein Weniger an Schuldenbremse, sondern ein Mehr – vor allem in der AHV –, um eine nachhaltige finanzielle Stabilität des Bundeshaushalts sicherzustellen.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe vom 29. Juli 2016 in der Finanz und Wirtschaft erschienen.