Was hält die Schweiz im Inneren zusammen? Verfolgt man jüngste Diskussionen um den Fremdsprachenunterricht in der Primarschule, so kann man nur zu einem Schluss kommen: Es ist das Erlernen einer zweiten Landessprache noch vor der Oberstufe. Sollte Englisch die einzige Fremdsprache sein, mit der unsere Kinder in den ersten sechs Schuljahren konfrontiert werden, drohe früher oder später die Implosion der Eidgenossenschaft. Zum Glück stemmt sich der Bundesrat dem mit seiner geplanten Änderung des Sprachengesetzes dagegen – so der Eindruck.

Schüler sind flexibel

Es ist eine Tatsache, dass beim Thema Fremdsprachenunterricht die Emotionen hochkochen. Etwas Abkühlung täte not. Zuerst aber sollte man sich in Erinnerung rufen, dass der Fremdsprachenunterricht auf der Primarstufe eine eher junge Erfindung ist. So gehörte der Schreibende vor rund zwanzig Jahren im Kanton Zürich zu den ersten, die vom frühen Französischunterricht ab der 5. Klasse profitieren sollten. Der Konjunktiv sagt alles über die Nachhaltigkeit dieser Erfahrung aus. Viel wichtiger ist doch, dass der nationale Zusammenhalt zwischen den Sprachregionen offensichtlich auch ohne Unterricht der Landessprache auf Primarschulstufe seit Jahrhunderten Bestand hat.

Vor diesem Hintergrund scheint der Angriff auf die Bildungshoheit der Kantone unverhältnismässig. Besonders stossend ist die Drohkulisse, die das Innendepartement gegenüber den Kantonen aufbaut. Die Kompetenz in Bildungsfragen bliebe zwar bei den Kantonen, so der Bundesrat, aber wer nicht «freiwillig» eine Landessprache in der Primarschule unterrichte, würde per Bundesgesetz dazu gezwungen. Man fühlt sich an ein Bonmot von Henry Ford erinnert: «Jeder Kunde kann sein Auto in einer beliebigen Farbe lackiert bekommen, solange sie schwarz ist.»

Die Begrenzung der Kantonshoheit wird – neben staatspolitischen Argumenten – mit dem Abbau von Mobilitätshindernissen begründet. Nur lässt sich mit diesem Argument fast jede kantonale Kompetenz in Abrede stellen. Es gehört zum Wesen des Föderalismus, dass regionale Unterschiede ausgehalten werden. Nur so sind «Trial-and-Error»-Verfahren möglich und nur so kann wirklicher Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten entstehen. Natürlich ist es für betroffene Kinder anstrengend, ein Schulsystem zu wechseln, doch dies würde zum Beispiel auch bei einem Wegzug ins Ausland gelten. Die Erfahrung zeigt ohnehin, dass Schülerinnen und Schüler viel anpassungsfähiger sind, als die Politik glaubt. Eine staatlich verordnete Sprachenregulation negiert bis zu einem gewissen Teil die Flexibilität und Lernfähigkeit der jungen Generation.

Unterschiedliche Zielsetzungen

Auch bei einem Festhalten an der kantonalen Bildungshoheit lohnt sich eine kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Konzept des Fremdsprachenunterrichts. Es ist wohl unbestritten, dass am Ende der obligatorischen Schulzeit jeder Deutschschweizer Jugendliche über Grundkenntnisse mindestens einer weiteren Landessprache (in der Regel Französisch, wobei es aus staatspolitischer Sicht wünschbar wäre, alternativ Italienisch wählen zu können) und Englisch verfügen sollte. Allerdings müssten die Ziele des Unterrichts in diesen beiden Sprachen stärker differenziert werden. So haben viele Schülerinnen und Schüler zu Englisch (als neue «Lingua franca») einen leichteren Zugang. Die Sprache ist alltagsprägend und wird in der Berufswelt meistens stillschweigend vorausgesetzt. Diese starke Präsenz erhöht natürlich auch die Motivation für den Englischunterricht bereits für kleinere Kinder. Der Fokus des Unterrichts sollte allerdings auf der Sprachnutzung als Basis für die Kommunikation mit dem Rest der Welt liegen. Der kulturelle Hintergrund des angelsächsischen Sprachraums steht im Unterricht nicht im Vordergrund, die Vernetzung ergibt sich in der globalisierten Welt quasi von selbst. Diese Argumente sprechen dafür, Englisch schon früh in der Primarschule in den Unterricht zu integrieren.

Der Unterricht in der zweiten Landessprache hätte hingegen einen anderen Auftrag. Er sollte das kulturelle Verständnis für einen anderen Landesteil fördern. Natürlich müssen das Erlernen der Sprache und die Möglichkeit zur Kommunikation primäre Ziele sein, doch spielt der Bezug zu Literatur, Lebensweise und Kultur eine viel grössere Rolle. Entsprechend sollten sich die verwendeten Lehrmittel auf den jeweiligen Schweizer Landesteil statt auf Frankreich oder Deutschland konzentrieren. Eine derart differenzierte Auslegung des Lernziels für die Landesfremdsprache spricht dafür, den Unterricht eher in die Oberstufe zu verlegen, denn das Verständnis der kulturellen Dimension verlangt eine gewisse Reife. Im Gegenzug könnte der Unterricht ausgebaut und mit einem mehrwöchigen Austausch in der jeweils anderen Sprachregion – auch etwas, das während der Primarschule noch nicht möglich ist – kombiniert werden.

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Ruft man sich in Erinnerung, dass ein Viertel der Bündner und ein Fünftel der Genfer noch nie in anderen Sprachregionen der Schweiz waren, würde eine solche Ausgestaltung des Sprachunterrichts wohl wesentlich mehr zum gegenseitigen Verständnis beitragen als jede Französischstunde in der Primarschule. Die Pläne des Kantons Thurgau gehen übrigens in eine ähnliche Richtung – so man ihn denn lässt.

Wenig kohäsionsfördernd

Der Zusammenhalt zwischen den Sprachregionen und das interkulturelle Verständnis sind Errungenschaften, auf die die Schweiz stolz sein kann. Viele mehrsprachige Länder schauen mit einem gewissen Neid auf die Funktionsfähigkeit unseres Staats. Dass diesem Zusammenhalt Sorge getragen werden muss und dass er während der schulischen Ausbildung Beachtung finden soll, steht ausser Frage. Die Versteifung auf die Frage des Startzeitpunkts für den Sprachunterricht trägt jedoch wenig zur pädagogischen Kohäsion bei. Im Gegenteil: Sie verhindert bessere und kreativere Lösungen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Bund genau diese mit einem Angriff auf den Föderalismus – einem zentralen Erfolgsfaktor für das Miteinander der Sprachregionen – zu verhindern sucht.

Dieser Artikel ist in der Ostschweiz am Sonntag vom 31. Juli erschienen.