Mit dem «Inländervorrang light» hat die Staatspolitische Kommission des Nationalrats eine einfach anwendbare Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative beschlossen. Doch ökonomische Beobachter reiben sich die Augen ob den in Helvetiens Wohnstuben seither hoch emotional geführten Diskussionen um das weitere Verhältnis unseres Landes zur EU. Nicht nur bei uns gehen die Wogen hoch über das vermeintlich «richtige» Ausmass an freiem Handel von Waren, Dienstleistungen und Kapital sowie der grenzüberschreitenden Mobilität von Arbeitskräften. International geraten Handelsabkommen unter Druck wirtschaftspolitischer Re-Nationalisierungstendenzen.

Befürworter geplanter Abkommen wie etwa der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) zwischen den USA und der EU agieren zunehmend aus der Defensive. Druckversuche von lokalen Umweltaktivisten oder der Verbraucherschützerin, die um die Lebensmittelsicherheit im eigenen Lande fürchtet, über den grundsätzlichen Globalisierungsgegner bis zum einheimischen Agrarlobbyisten führen dazu, dass Regierungen zuvor standhaft vertretene Positionen für mehr Freihandel aufgeben. Gerade bei TTIP zeigt sich dieser Dominoeffekt exemplarisch: Nachdem die französische Politik, auch vor dem Hintergrund der anstehenden Präsidentenwahlen, verbesserten Handelsbeziehungen zwischen den USA und der EU auch nicht mehr Gutes abgewinnen kann, reihte sich wenige Tage danach der deutsche Wirtschaftsminister in den Kreis der Kritiker ein. Noch zuvor hatte er sich mit Verve monatelang, auch im Interesse verbesserter Rahmenbedingungen für die deutsche Automobilindustrie, für TTIP engagiert. Und Ende vergangener Woche hat auch Österreichs Regierung TTIP in der jetzigen Form eine Absage erteilt.

Ausgeblendet wird, dass bei Realisierung der TTIP in Europa 400 000 neue Arbeitsplätze entstehen sollen, in den USA rund eine Million. Vor dem Hintergrund der Arbeitslosigkeit mutet das politische Ausbremsen einer weiteren Öffnung deshalb mehr als seltsam an. In Frankreich sind derzeit 3,5 Millionen und in Österreich 330 000 Personen ohne Arbeitsstelle. In den USA waren es Ende August knapp 8 Millionen. Doch auch in der Schweiz werden die Vorzüge offener Handelsbeziehungen in der öffentlichen Diskussion nicht ohne weiteres anerkannt – oder gar verneint! Bestes Beispiel dafür sind die Bilateralen I, die aus sieben Bereichen wie der Beseitigung technischer Handelshemmnisse oder dem Luftverkehrsabkommen bestehen.

Im Vordergrund der öffentlichen Wahrnehmung steht aber beinahe ausschliesslich die Personenfreizügigkeit. Sie ist ein integraler Bestandteil des Bilateralen-Pakets. Zwar wurde wiederholt öffentlich dargelegt, dass das Bruttoinlandprodukt in den nächsten 20 Jahren kumuliert um 460 Milliarden Franken drastisch zurückgehen würde, fielen die Bilateralen I weg. Vielleicht ist diese schiere Grösse von 460 Milliarden für den Einzelnen unvorstellbar, darum sind Zahlen in diesen Grössenordnungen zu uns Bürgerinnen und Bürgern herunterzubrechen. Die Hausaufgabe wurde für diese Kolumne gemacht: Seit Inkrafttreten der Bilateralen und damit vor allem der Personenfreizügigkeit zwischen unseren europäischen Nachbarn und der Schweiz hat sich das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen bei uns jedes Jahr zwischen 0,5 und 1 Prozent erhöht. Das BIP pro Kopf betrug 2002 64 000 Franken. Mit dem konservativen Wert von 0,5 Prozent Einkommenssteigerung pro Jahr ergibt dies seit Inkrafttreten der Bilateralen und der Personenfreizügigkeit 2002 ein kumuliertes Zusatzeinkommen von über 50 000 Franken. Frau und Herr Schweizer haben also dank diesen bilateralen Abkommen fast vier Fünftel eines typischen Schweizer Jahresgehalts dazu verdient. Bis ins Jahr 2019 wird es ein Jahresgehalt sein – also alle 17 Jahre sage und schreibe ein ganzer Jahreslohn.

Wir sollten uns ob all der Diskussionen um Initiativen und Referenden zur Personenfreizügigkeit wieder etwas mehr über die konkreten Auswirkungen der Politik auf das eigene Portemonnaie bewusst werden. Dies würde der sachlichen Diskussion über unser zukünftiges Verhältnis zu Europa, aber auch zu anderen Wirtschaftsregionen nur Vorschub leisten.

Dieser Text ist am 12. 9. 2016 im St. Galler Tagblatt und am 13. 9. 2016 in der Luzerner Zeitung erschienen.