Ist die Mobilität in der Schweiz generell zu günstig?

Grundsätzlich ja, denn einen erheblichen Teil der Mobilitätskosten trägt heute nicht der Nutzer, sondern die Allgemeinheit über steuerfinanzierte Subventionen und externe Effekte. Gemäss offiziellen Statistiken liegt der Eigenfinanzierungsgrad auf der Strasse im Güterverkehr bei 95% und im Personenverkehr bei 90%. Auf der Schiene liege die Werte mit 46% im Personen- bzw. 53% im Güterverkehr deutlich niedriger. Das ist Mobilität auf Kosten anderer.

Welche Folgen hat dies für die Mobilität?

Durch die Subventionierung des Verkehrs provoziert die Politik eine «Übermobilität». Das Verkehrswachstum hat sich von zugrundeliegenden wirtschaftlichen und demografischen Grundgrössen entkoppelt: In den letzten zwei Jahrzehnten (1995–2015) wuchs die Bevölkerung um 18% und das reale Bruttoinlandprodukt um 46%. Die Personenkilometer auf der Schiene nahmen hingegen um 76% zu und die Fahrleistung auf den Nationalstrassen gar um 89%. Wenn dieses Wachstumstempo anhält, müssen wir weite Teile der Infrastrukturnetze «reskalieren». Höhere Benutzerabgaben sind also nicht nur aus Gründen der Kostenwahrheit geboten, sondern auch um das Verkehrswachstum zu drosseln und somit gigantische Ausbaukosten zu vermeiden.

Das rasante Verkehrswachstum verursacht in Spitzenzeiten immer häufiger Engpässe. Inwiefern ermöglicht Mobility Pricing eine bessere Auslastung der Infrastruktur?

Dem Mobility Pricing liegen zwei allgemeine Prinzipien zugrunde: Erstens mehr Benutzerfinanzierung durch höhere Tarife. Darüber sprachen wir bereits. Zweitens eine bessere Kapazitätsauslastung durch differenzierte Tarife. Überlastet sind unsere Verkehrssysteme nämlich nur zu Stosszeiten und auf Engpassstrecken. Ein Beispiel: Während drei bis vier Stunden am Tag sind die Züge rappelvoll, aber die durchschnittliche Sitzplatzauslastung der SBB liegt bei nur 32% im Fernverkehr und bei nur 20% im Regionalverkehr. Mit anderen Worten: 70% bis 80% der Kapazitäten bleiben derzeit ungenutzt.

Mit welchen Folgen?

Dies verursacht massive Kosten durch Staus auf der einen und brachliegende Kapazitäten auf der anderen Seite. Zudem werden immer neue Milliardenpakete geschnürt, um Infrastrukturkapazitäten auszubauen, die anschliessend nur drei bis vier Stunden am Tag benötigt werden. Mit differenzierten Preisen könnten die Verkehrsspitzen geglättet werden. Die Swiss beispielsweise kommt dank differenzierter Tarife auf eine Sitzplatzauslastung von 83%.

Die Pendler fühlen sich schon heute geschröpft. Ist es nicht unfair, sie noch mehr zu belasten?

Das Klagen der Pendler scheint mir wenig gerechtfertigt, denn dank der heutigen Verkehrspolitik sind sie dreifach privilegiert. Erstens profitieren die Pendler von allgemeinen Verkehrssubventionen, zweitens von Mengenrabatten wie dem GA oder der Autobahnvignette und drittens vom Pendlerabzug bei der Steuer. Nur mal ein Vergleich: Eltern von schulpflichtigen Kindern werden vom Staat gezwungen, in der Hauptsaison zu verreisen. Für den Flug und das Hotel bezahlen sie einen Drittel mehr als ein kinderloses Ehepaar in der Nebensaison. Eltern gehen wegen dieser vermeintlichen Ungerechtigkeit auch nicht auf die Barrikaden und fordern vom Staat ganzjährig uniforme Tarife für Hotels und Flüge.

Die Pendlerflexibilität ist aktuell sehr gering. Bringt Mobility Pricing wirklich den gewünschten Anreiz, sich beim Konsum von Mobilität kostenbewusst zu verhalten?

In einem Punkt ist die Kritik der Pendler berechtigt: Sie können nur dann die Stosszeiten meiden, wenn Arbeitszeiten flexibilisiert werden. Hier sind die Arbeitgeber gefordert, mehr Homeoffice- oder Gleitzeitmodelle anzubieten. Dies würde auch deutlich die Preiselastizität im Verkehr erhöhen. Eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten und der Unterrichtszeiten in tertiären Bildungseinrichtungen wäre somit eine wichtige flankierende Massnahme für die Einführung von Mobility Pricing. Oft wäre schon viel damit gewonnen, wenn es gelänge, die Verkehrsspitzen um ein bis zwei Stunden zu entzerren.

Keine verdeckte Steuer

Mobility Pricing soll zu keinen zusätzlichen Kosten für die Verkehrsteilnehmer führen, sondern unter dem Strich sorgen, dass für Mobilität anders bezahlt wird. Ist das ein realistisches Szenario?

Avenir Suisse vertritt diesbezüglich eine klare liberale Haltung: Höhere Verkehrsgebühren sollten nicht zur versteckten Steuer werden und die Staatsquote erhöhen. Vielmehr geht es beim Mobility Pricing, wie wir es verstehen, um eine fiskalisch neutrale Umschichtung der Finanzierungsbasis im Verkehr – weg von Steuersubventionen und hin zu benutzerabhängigen Gebühren. Unterm Strich sollte dies die Bürger entlasten, denn die Gesamtkosten des Systems werden gemindert. In der Praxis gibt es jedoch ein Problem: Da der Verkehr immer noch stark wächst und die Gesamtkosten entsprechend steigen, wird der Bürger – als Verkehrsnutzer und Steuerzahler – diese Entlastung nicht direkt spüren. Ihm bleibt lediglich eine noch grössere Kostensteigerung erspart. Die macht es deutlich schwieriger, die Vorteile des Mobility Pricing für die Bevölkerung sichtbar zu machen.

Birgt Mobility Pairing nicht die Gefahr einer «Zweiklassengesellschaft», indem die Mobilität für zahlreiche Nutzer nicht mehr erschwinglich ist?

Zunächst einmal: Es wird immer nur nach der Gerechtigkeit des Mobility Pricing gefragt, nicht jedoch nach jener des Status Quo. Heute profitieren alle Nutzer, unabhängig vom Einkommen, von der Subventionierung des Verkehrs. Da Personen mit hohem Einkommen mobiler sind und überdurchschnittlich häufig das GA nutzen, werden sie besonders stark von der Allgemeinheit alimentiert. Viel sinnvoller wäre es doch, die allgemeinen Verkehrssubventionen abzubauen und den wirklich bedürftigen Gruppen gezieltere Transfers angedeihen zu lassen. Aber auch abgesehen davon: Die Einführung eines Mobility Pricing sollte über viele Jahre schrittweise erfolgen, damit die Menschen auch Zeit haben, ihre Alltagsgewohnheiten an höhere Mobilitätspreise anzupassen. Niemand fordert zum nächsten Jahreswechsel die Einführung eines hundertprozentigen Kostendeckungsgrads.

Der Bund betrachtet Mobility Pricing als langfristig angelegtes Konzept und hat jetzt das UVEK beauftragt, Pilotprojekte zu prüfen. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen?

Es ist wichtig, dass sich der Bund dieses Themas politisch annimmt. Auch die Idee von Pilotprojekten kann grundsätzlich sinnvoll sein. In Stockholm beispielsweise hat man die City-Maut erst nach einer Pilotphase endgültig eingeführt. Während des Testlaufs konnte bewiesen werden, dass das gewählte Peak-Pricing zu einer deutlichen Reduktion der Staus in der Innenstadt führte. Dieser Demonstrationseffekt überzeugte die Menschen – aus einer mehrheitlichen Ablehnung wurde eine mehrheitliche Zustimmung zu dieser Gebühr. Was beim Konzept des Bundes jedoch weniger überzeugt, ist der lange Planungshorizont von 15 Jahren zur Einführung eines Mobility Pricing. Kaum ein Sektor wird von der Digitalisierung derart umgewälzt wie der Verkehrssektor, und daher wäre etwas mehr Tempo in der Verkehrspolitik angebracht.

Mit Mobility Pricing sollen verkehrsträgerübergreifend Verkehrsspitzen gebrochen und eine gleichmässigere Auslastung der Verkehrsinfrastrukturen erreicht werden. Führt das nicht automatisch zu Zielkonflikten zwischen den beiden Verkehrsträgern Strasse und Schiene?

Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es zahlreiche Instrumente gibt, um den Zielen des Mobility Pricing – mehr Eigenfinanzierung und differenzierte Tarife – schrittweise näher zu kommen. Die Einführung der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) war ein erster Schritt. Weitere wären beispielsweise Gebühren für die Fahrt durch staubelastete Innenstädte oder grosse Tunnelbauten. Am Ende stünde eine landesweite Strassengebühr und im Gegenzug eine Abschaffung anderer Steuern und Gebühren. Beim ÖV reicht das Spektrum von dem Ersatz des Rentner-GA durch ein «Talzeiten»-GA (Anmerkung der Red: Zeiten mit niedriger Auslastung) über höhere Tarife zur Rush-hour bis zu einem flächendeckenden E-Ticket mit variablen Tarifen.

Synchron auf Strasse und Schiene einführen

Wie sollte also Mobility Pricing idealerweise eingeführt werden?

Egal, ob man Mobility Pricing nun stufenweise einführt oder im Rahmen eines «Big-Bang» – man sollte es immer synchron auf Strasse und Schiene tun. Der Grund ist simpel: Beide Verkehrsträger sind bereits heute in wichtigen Bereichen an ihren Kapazitätsgrenzen. Eine Verschiebung der relativen Preise zwischen ÖV und MIV würde zu einer Verlagerung von Verkehrsströmen führen und damit zu einer Verschärfung der Verkehrsprobleme. Dies bedeutet jedoch auch eines: Wir müssen mit der historisch gewachsene Arbeitsteilung zwischen Strasse und Schiene arbeiten und auch mit einer gewissen Diskrepanz der Kostendeckungsgrade leben. Es gibt diesbezüglich eine Pfadabhängigkeit der Verkehrspolitik.

Führt Mobility Pricing nicht zu einem «Bürokratiemonster» mit riesigen Erhebungsaufwand?

Ein Mobility-Pricing-Konzept muss aus unserer Sicht zwei grundlegende Bedingungen erfüllen. Erstens müssen die administrativen Kosten möglichst gering sein. In dieser Hinsicht ist die LSVA exemplarisch: Die Gesamtbetriebskosten für das System betragen deutlich weniger als 10% der Einnahmen. Zweitens, ein Mobility-Pricing-Konzept muss benutzerfreundlich sein. Das E-Ticket beispielsweise kombiniert variable Tarife mit dem Komfortfaktor des GA – denn man muss kein Einzelbillet lösen. Benutzerfreundlichkeit beinhaltet auch eine übersichtliche Tarifstruktur, keinen Tarifdschungel. In beiden Punkten kommt uns die rasante technologische Entwicklung zugute: Mobility-Pricing-Systeme werden in den nächsten Jahren deutlich billiger und benutzerfreundlicher.

Ein zentrales Thema beim Mobility Pricing ist der Datenschutz. Wie kann dieser gewährleistet werden, wo nicht einmal gesetzliche Grundlagen vorhanden sind?

Legitime Datenschutzbedenken müssen beim Systemdesign entsprechend berücksichtigt werden. Es gibt technische Möglichkeiten, die gesammelten Daten zu entpersonalisieren, beispielsweise indem die zentralen Datenbank nur die für eine Strecke berechneten Gebühren speichert, nicht aber die zugrundeliegenden Bewegungsdaten der Nutzer. Unabhängig davon scheinen mir einige Sorgen auch überzogen. Denn schliesslich werden über jeden, der soziale Medien nutzt oder ein Smartphone besitzt, schon heute Unmengen an Daten gesammelt – auch Bewegungsprofile. Und dies nicht von einem direkt-demokratisch kontrollierten Staat, sondern von kommerziellen Anbietern, die teils nicht mal dem Schweizer Recht unterstehen.

Dennoch ist die Akzeptanz von Mobility Pricing in der Bevölkerung eher gering.

Für die geringe Akzeptanz sehe ich zwei Ursachen. Einerseits wurden die Nutzer durch Verkehrssubventionen jahrzehntelang an günstige Mobilität gewöhnt und haben ihre Alltagsgewohnheiten darauf eingestellt. Zweitens geht es beim Mobility Pricing ja gerade darum, den Nutzer die von ihm verursachten Kosten spüren zu lassen – nur so bezieht er sie voll in seine eigenen Mobilitätsentscheidungen ein.

Wie kann die Akzeptanz erhöht werden?

Um die Akzeptanz des Mobility Pricing zu erhöhen, braucht es folgende Voraussetzungen: Erstens muss sichergestellt werden, dass das Mobility Pricing fiskalisch neutral bleibt, d.h. dass die Bürger im Gegenzug auch steuerlich entlastet werden. Zweitens muss das Mobility Pricing so konzipiert sein, dass es bei der Lösung heutiger Verkehrsprobleme hilft, insbesondere der Reduktion von Staus. Drittens müssen Pendler durch flexiblere Arbeitszeitmodelle eine Chance zum Vermeiden der Stosszeiten erhalten. Hier sind die Arbeitgeber gefordert. Über kurz oder lang werden die Verkehrsprobleme vermutlich ohnehin derart zunehmen, dass die Akzeptanz für neue Lösungsansätze allgemein steigt.

Finanzierung durch Nutzer, nicht durch Steuerzahler

Mobilität hört heute nicht an unseren Grenzen auf. Inwiefern müssen wir uns mit dem Ausland abstimmen oder anpassen, wenn wir Mobility Pricing einführen wollen?

Als Binnenland und Transitland im Herzen Europas wäre eine grenzüberschreitende Einführung von Mobility Pricing natürlich aus Schweizer Sicht die beste Lösung. In vielen europäischen Ländern gibt es Bemühungen zur Einführung von Mobility Pricing und auch über EU-weite Konzepte denkt man in Brüssel bereits nach. Wir sollten aber nicht darauf warten, bis die EU unsere Verkehrsprobleme löst. Die ersten Schritte in Richtung Mobility Pricing könnte man unilateral und sofort in Angriff nehmen.

Städte wie London oder Kopenhagen haben bereits Roadpricing eingeführt. Dieses fokussiert sich ausschliesslich auf den Strassenbereich. Wie beurteilen Sie dieses Konzept?

Eine City-Maut mit variablen Tarifen könnte in Genf oder Zürich Sinn machen, denn in diesen beiden Städten gibt es regelmässige Staus, vor allem im Berufsverkehr. Im Ausland gibt es inzwischen viele Städte, die mit solchen Systemen gute Erfahrungen gesammelt haben.

Singapur wird im Hinblick auf den Verkehr der Zukunft immer wieder als Vorbild genannt. Teilen Sie diese Meinung?

Der Stadtstaat Singapur ist in puncto Infrastrukturmanagement insgesamt vorbildlich und auch ein Vorreiter beim Mobility Pricing. Dies ist integraler Bestandteil eines Gesamtverkehrskonzeptes, dass auf moderne Infrastruktur, innovative Technologien und ein effektives Zusammenspiel verschiedener Verkehrsträger setzt. Wer einmal in Singapur war, weiss dies zu schätzen. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass die meisten anderen asiatischen Metropolen mit dem drohenden Verkehrskollaps kämpfen.

Wir bauen bald eine zweite Röhre durch den Gotthard. Viele Tunnel in unseren Nachbarländern sind gebührenpflichtig. Wird oder soll das auch am Gotthard so sein?

Im österreichischen Nationalstrassennetz gibt es sechs alpenquerende «Sondermautstrecken», für die man separat zahlen muss. Fünf davon befinden sich an grossen Tunnelbauten. In Frankreich gibt es neben der allgemeinen Autobahngebühr ebenfalls gebührenpflichtige Tunnel, wie den am Mont Blanc. Auch der Tunnel am Grossen St. Bernhard an der schweizerisch-französischen Grenze ist seit seiner Eröffnung in den 1960erJahren gebührenpflichtig. Der Gotthard-Strassentunnel wäre ein idealer Kandidat für eine Tunnelgebühr. Die Sanierung der ersten und der Bau der zweiten Röhre werden an die 3 Mrd. Fr. kosten, und dafür sollten die Nutzer aufkommen, nicht die Steuerzahler. Er ist mit 17 Kilometer der mit Abstand längste Strassentunnel des Landes, und die Erhebung einer Gebühr an den beiden Zufahrten wäre technisch einfach. Zudem liegt er auf der Haupttransitroute durch die Schweiz; eine Maut würde somit den Transitverkehr mit seinen externen Kosten für die Schweiz treffen. Und schliesslich gibt es am Tunneleingang regelmässig Staus, etwa am Osterwochenende und zu Ferienbeginn. Was läge näher, als mit diesem Projekt den Einstieg in ein umfassenderes Mobility Pricing zu wagen?

Interview: Rolf Leeb

Dieses Interview ist in der Zeitschrift «Strasse und Verkehr» des Schweizerischen Verbands der Strassen- und Verkehrsfachleute VSS erschienen (Nr. 1-2, Januar-Februar 2017)