Im Wettbewerb mit dem Gymnasium muss die Berufslehre laut Avenir Suisse für schulisch Begabte attraktiver werden. Der Schweizerische Gewerbeverband widerspricht und will die Berufsbildung über eine umfassende und frühzeitige Berufswahlvorbereitung aufwerten.

Pro – Die Globalisierung betrifft auch die Lehre

Hintergrund der Sorge um die Berufsbildung ist die zunehmende Globalisierung der Schweizer Wirtschaft. Die Intensivierung der grenzüberschreitenden Arbeitsteilung hat die «wissensbasierte Ökonomie» in vielen Bereichen Tatsache werden lassen. Auch in der Berufsbildung wird vertieftes Verstehen von Zusammenhängen immer wichtiger. Die Berufsbilder haben sich entsprechend verändert, während das Vorwissen aus den zubringenden Schulen einigermassen konstant blieb. Verstärkt durch rückläufige Jugendjahrgänge führt dies dazu, dass anforderungsreiche Lehrstellen – zum Beispiel in der Industrie – oft nicht mehr besetzt werden können. Der «Kampf um die Talente» ist im Gang. Ein grosser Teil der «Warteschlaufe» vor der Berufsbildung, die fast jeden dritten angehenden Berufslernenden betrifft, entsteht dadurch, dass die gesuchten Lehrstellen vielerorts knapp sind. Diese beiden Realitäten – Mangel an geeigneten Bewerbern und Fehlen von anspruchsvollen Angeboten – existieren gleichzeitig. Dies irritiert und verleitet zu Fehlschlüssen.

So erscheint es verlockend, die Berufsbildung durch das Zurückdrängen der Maturitätsquoten zu stützen. Aber dies würde die «Warteschlange» verlängern und den Mangel an Akademikern weiter verschärfen. Relevantes Kriterium zur Erlangung der Matura kann nur die Studierfähigkeit sein. Die Berufsbildung ihrerseits kann attraktiver werden, indem die Allgemeinbildung (Sprachen, Mathematik und IT) erweitert und der Spezialisierungsgrad der Ausbildungen reduziert wird. Im Idealfall wird die wichtigste Bildungsweiche nicht eindimensional entlang der Verteilung der kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten gestellt, sondern es entscheiden sich vermehrt schulisch Begabte bewusst für eine Karriere über die Berufsbildung. Ein fruchtbarer Wettbewerb zwischen beruflicher und akademischer Bildung setzt aber gleich lange Spiesse voraus. Damit stellen sich die Fragen der Finanzierung der Bildungsangebote.

Patrick Schellenbauer ist Autor des Berichts «Die Zukunft der Lehre» der Stiftung Avenir Suisse.

Kontra – Neigung und Eignung kommt vor Prestige!

Alle sind des Lobes voll für unsere Berufsbildung. Dennoch kämpft der Schweizerische Gewerbeverband (SGV) auf verlorenem Posten, wenn es im Parlament darum geht, dass der Bund endlich die ganzen 25 Prozent der Ausgaben in der Berufsbildung übernehmen kann, wozu er gesetzlich verpflichtet ist. Weshalb ist es so schwierig, bei den überbetrieblichen Kursen mehr Geld an die Pauschalen zu erhalten, und weshalb gibt es Kantone, die lieber in die höheren Fachschulen investieren, als Vorbereitungskurse für Berufs- und höhere Fachprüfungen zu unterstützen?

Wenn es nun Leute gibt, die allen Ernstes meinen, sie würden die Berufsbildung unterstützen, wenn sie – ohne zu hinterfragen – die steigende Maturitätsquote an unseren Gymnasien als gegeben hinnehmen, und dann diese jungen Leute direkt an eine Fachhochschule schicken und parallel dazu eine praktische Ausbildung machen lassen wollen, dann ist dies ein absoluter Irrweg! Dies würde sowohl die Fachhochschulen als wissenschaftsbasierte Bildungsstätten abwerten als auch die Berufslehre zum Nebenjob deklassieren. Denn wer sowohl auf Fachhochschulniveau studieren und nebenbei eine Berufslehre machen kann, müsste ja schon ein Übermensch sein. So geht für den SGV die Lösung, die Berufsbildung aufzuwerten und wieder mehr Jugendliche in die Berufslehren zu gewinnen, sicher nicht über den vorgeschlagenen Weg von Avenir Suisse. Der Schlüssel liegt in einer frühzeitigen und umfassenden Berufswahlvorbereitung. Bereits ab der 7. Klasse sollten alle Jugendlichen gründlich über die zahlreichen Möglichkeiten auf der Sekundarstufe II informiert werden. Der SGV hat deshalb zusammen mit der EDK das Projekt «Anforderungsprofile – profils d’exigences» lanciert, damit Jugendliche in der Schule prüfen können, wo ihre schulischen Stärken verglichen mit den Anforderungen im Wunschberuf liegen. Damit Neigung und Eignung wirklich zum Zug kommen und nicht nur Prestige!

Christine Davatz-Höchner ist Vizedirektorin des Schweizerischen Gewerbeverbands und im Verband für den Themenbereich Berufsbildung verantwortlich.

Dieser Artikel erschien in der Fachzeitschrift Panorama vom 23. Juni 2011.