Janine Hosp: In Zürich klagen viele Mieterinnen und Mieter, die Wohnungen würden immer teurer. Nach der von Ihnen verfassten Studie zahlen sie, gemessen an ihrem Einkommen, aber nicht mehr.

Patrik Schellenbauer: 82 Prozent der Haushalte des unteren Mittelstands zahlen weniger als ein Drittel ihres Einkommens für die Miete, wie die Bevölkerungsbefragung 2009 der Stadt Zürich zeigt. Ich vermute, dass die Belastung seither etwas gestiegen ist, aber nicht dramatisch; In der Stadt Zürich sind 75 Prozent der Haushalte vor grösseren Erhöhungen geschützt – weil sie Wohneigentum besitzen, in einer Genossenschaft leben oder weil sie einen laufenden Mietvertrag haben.

Vielleicht ist dieser Wert nicht gestiegen, weil Schlechtverdienende längst weggezogen sind.

Das ist vorstellbar. Auf dem Wohnungsmarkt gibt es aber zwei Realitäten. Neben den Mietern, die bereits eine Wohnung haben, gibt es die «Outsider», die auf dem freien Markt eine Wohnung suchen. Dort sind die Mieten tatsächlich stark gestiegen. Die Frage ist, weshalb das so ist.

Ja, weshalb?

Gründe dafür sind natürlich die steigenden Einkommen und die Zuwanderung, aber auch die staatliche Regulierung; das Mietrecht trägt zur Vernichtung von günstigem Wohnraum bei. Hausbesitzer dürfen die Mieten zum Beispiel nur erhöhen, wenn ihre Kosten steigen, nicht aber, um sie einer steigenden Nachfrage anzupassen. Sie dürfen die Mieten nur erhöhen, wenn sie Wohnungen wertvermehrend renovieren und etwa ein zweites Bad einbauen. Was also tun Hausbesitzer? Sie streichen ihre Wohnungen nicht nur neu, sie führen gleich eine Totalsanierung durch und verlangen danach viel höhere Mieten. Das sind dann jene Beispiele, die in den Medien ausgeschlachtet werden.

Das Gesetz könnte auch vorschreiben, dass gut erhaltene Häuser nicht übersaniert werden dürfen.

Natürlich könnte es das, so geschehen in der Stadt Genf. Denn immer, wenn der Staat etwas reguliert, entstehen Ausweichmöglichkeiten, und er muss noch mehr Vorschriften erlassen. So riskiert man, dass es unattraktiv wird, Wohnungen zu bauen und zu vermieten. Das ist auch der Grund, weshalb der Genfer Markt angespannter ist als der Zürcher.

Was raten Sie? Soll der Wohnungsmarkt völlig liberalisiert werden?

Avenir Suisse fordert nicht, dass man den Mieterschutz über Nacht ersatzlos streicht und alle Genossenschaften privatisiert. Das wäre politisch aussichtslos und in der jetzigen Situation mit hohen Anpassungskosten verbunden. Wir sind aber überzeugt, dass die von SP und von Mieterseite geforderten Verschärfungen die Probleme nicht lösen können. Gerade die Sonderzonen würden den Wohnungsmarkt weiterverkrusten.

Weshalb?

Die Nachfrage nach diesem Wohnraum wäre enorm. Es würden aber nicht primär jene zum Zug kommen, für die sie gedacht sind. Die privaten Besitzer haben wenig finanziellen Spielraum. Sie würden beim Unterhalt sparen und Mieter bevorzugen, welche am wenigsten Kosten verursachen, also eher nicht Familien. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Belegungs- und Unterhaltsvorschriften gefordert würden. Hier beginnt eine Regulierungsspirale zu drehen, die private Besitzer vergraulte, und am Ende würden gemeinnützige Organisationen die Liegenschaften übernehmen.

Wäre das schlecht?

Auf diese Weise würde durch die Hintertür eine Art neue Genossenschaft entstehen. Und auch hier stellt sich die Frage der Gerechtigkeit. Wir haben berechnet, wie hoch die Subvention ist, welche Genossenschafter erhalten: In zwölf Jahren – das entspricht einer durchschnittlichen Bleibedauer – sind dies ein bis zwei Jahreseinkommen. Schön für den, der es bekommt – die Warteschlangen sind aber lang, und darunter sind auch Personen, die in einer vergleichbaren Lage sind. Das führt innerhalb des Mittelstandes zu einer unklaren Umverteilung. Letztlich zahlen die Leute in der Warteschlange die Kosten dafür.

Wenn man davon ausgeht, dass Genossenschaften von der Stadt unterstützt werden. Wenn nicht, stellt sich die Frage, wer die zwei Jahresgehälter bekommen soll: der Mieter oder ein Investor.

Das ist nicht nur eine Frage der Verteilung zwischen den Mietern und den Eigentümern. Über vergünstigte Baurechte fördert die Stadt den gemeinnützigen Wohnungsbau noch heute. Damit entgehen ihr – und den Einwohnern – Einnahmen. Man sollte prüfen, ob es nicht besser wäre, einkommensschwache Haushalte direkt, durch Subjekthilfe, zu unterstützen.

Sind die Mieten zu günstig?

Sie sind zum Teil zu tief. Wer eine günstige Wohnung hat, gibt sie nicht ohne Not auf und ist darin regelrecht gefangen. Dieses Phänomen hat in Zürich substanzielle Ausmasse angenommen und blockiert viel Wohnraum, auch für Familien.

Was ist Ihre Lösung für die angespannte Lage auf dem Wohnungsraum?

Eines der Hauptprobleme ist, dass in der Stadt Zürich zu wenig gebaut wird. Im letzten Jahrzehnt ist der Wohnungsbestand jährlich nur um ein halbes Prozent gewachsen. In den 70er-Jahren wurde viel mehr gebaut.

Weshalb heute nicht?

Weil man in Zürich eine Dichteaversion hat; die Stadt will sich nicht wirklich verdichten. Das schlägt sich in der Bauordnung nieder, die vielerorts nicht zulässt, dass das Angebot ausgebaut werden kann. So gerät man in ein Dilemma: Einerseits möchte man eine globale Stadt sein und ist stolz, in dieser Liga mitzuspielen, andererseits möchte man fast ländlich wohnen. Beides geht nicht.

Ausser man schränkt sich ein und konsumiert weniger Fläche.

Genau. Aber die meisten Mieten signalisieren das Gegenteil. Sie zeigen nicht an, dass der Raum knapp ist – und mehr gebaut werden muss.

Die Mietpreise lenken, aber das Gesetz schränkt diese Funktion zu stark ein. Ja, die Mietpreise lenken Gutverdienende ins Zentrum und die anderen an die Peripherie. Die Bevölkerung würde sich entmischen.

Natürlich würde es gewisse Quartiere geben, in denen mehr Gutverdienende leben würden. Als Ökonom möchte ich Sie fragen: Was ist genau der Nutzen dieser Durchmischung für die Allgemeinheit? Geht es nicht auch um Partikularinteressen?

Im Ausland sieht man, wohin eine Entmischung führen kann: Bedürftige wohnen in heruntergekommenen Banlieues, und Reiche müssen ihre Villen scharf bewachen lassen.

Ich glaube nicht, dass es in der Schweiz so weit kommen wird. Die Verhältnisse in Frankreich sind nicht die Folge des Wohnungsmarktes, sondern des elitären Bildungssystems, das Zuwanderer nicht zu integrieren vermag. Und viele Banlieues wurden als subventionierter Wohnraum für den Mittelstand geplant. Dies zeigt, dass diese Politik versagt hat.

Für jemanden, der seine Wohnung verlassen muss, weil die Mietpreise lenken, ist die reine ökonomische Lehre kein Trost.

Wir leben nicht im Schlaraffenland. Natürlich gibt es Einzelschicksale. Aber man fokussiert zu stark auf die älteren Mieter, die aus ihrer grossen Wohnung ausziehen müssen, und sieht zu wenig die Familie, die auch froh darum wäre. Die ökonomische Lehre ist aber kein Selbstzweck. Wir Ökonomen glauben, dass die Allgemeinheit profitieren würde, wenn der Markt freier spielen könnte.

Sie sehen die Lösung für die Wohnungsknappheit vor allem in einer höheren Bautätigkeit. Aber wird man je so viele Wohnungen bauen können, dass man die grosse Nachfrage befriedigen kann?

Natürlich nicht über Nacht, das wäre eine Illusion. Aber längerfristig müssen wir mehr und an anderen Orten bauen, wo die Nachfrage ist – in den Zentren.

Soll man die Stadt mit Hochhäusern überstellen? Dann wäre das Problem wohl auch gelöst, weil niemand mehr hier wohnen möchte.

Man könnte auch bestehende Quartiere aufstocken. Zürich gerät hier in einen Zielkonflikt: Wenn die Stadt für die Zu wanderung – auch aus dem Inland – offen bleiben will und sich nicht verdichten möchte, muss sie höhere Mieten in Kauf nehmen oder sich weiter ausdehnen.

Was sagen Sie den Leuten, welche die Zuwanderung für die Wohnungsknappheit verantwortlich machen?

Denen sage ich, dass die Zuwanderung das Problem heute sicher zuspitzt. Der steigende Wohlstand trägt aber genauso dazu bei. Und das Mietrecht hat seine Kosten. Wer bei hoher Nachfrage die Mieten tief halten will, darf sich nicht gleichzeitig über Wohnungsmangel beklagen.

Dieses Interview erschien im Tages-Anzeiger vom 13. Juli 2011