Die Diskussion um die Zukunft des Gesundheitswesens wird allenthalben von steigenden Kosten bestimmt. Doch das ist nur die Rückseite der Medaille. Die Vorderseite zeigt den medizinischen Fortschritt und seinen volkswirtschaftlichen Nutzen, den Zugewinn an Lebensqualität und das Wachstumspotential des Gesundheitssektors.

Politik und Wissenschaft bezeichnen den Gesundheitssektor gerne als «kranken Patienten». Für dieses Urteil gibt es drei wesentliche Gründe. Erstens sind die Kosten des Gesundheitswesens überall sehr stark gestiegen, in Deutschland beispielsweise zwischen 1992 und 2009 von 158,6 Mrd. Euro auf 278,3 Mrd. Euro oder nominell um 3,4 % jährlich. Nun wäre diese Entwicklung nicht weiter problematisch, wenn sie Ausdruck einer reichen Gesellschaft wäre, die das Gut Gesundheit vermehrt nachfragt.

Doch im Gegensatz zu einer verstärkten Nachfrage etwa nach Freizeit oder Ferienreisen beruht die Expansion des Gesundheitssektors nicht auf einem freien, weitgehend unverzerrten Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage. Das ist der zweite Grund für das Unbehagen über die Expansion des Gesundheitswesens, denn diese hat nicht zuletzt mit einem durch Informationsasymmetrien, den Moral Hazard jeder Versicherung, nicht risikogerechte Prämien, mangelnden Wettbewerb zwischen den Anbietern und staatliche Subventionen vielfach verzerrten Preisbildungsmechanismus zu tun.

Schliesslich gibt es, drittens, wohl kein emotional belasteteres Thema als die Gesundheit. Der Anstieg der Gesundheitsausgaben vor allem im hohen Alter stellt die Gesellschaft vor heikle Fragen in Bezug auf das Kosten/Nutzen-Verhältnis von medizinischen Leistungen. Wie viel ist ein Leben wert? Wofür ist die Gesellschaft bereit zu zahlen? Und vor allem: wer entscheidet, welche Leistungen zu welchem Preis von der Allgemeinheit bzw. den Krankenkassen übernommen werden sollen und welche nicht?

Vom Nutzen des medizinischen Fortschritts

Vor lauter Herausforderungen und schwierigen Fragen wird allerdings die Vorderseite der Medaille, also der Nutzen des Gesundheitssektors, oft übersehen. Mit anderen Worten: Die Kosten mögen steigen, und das alles andere als marktgetrieben, und grundlegende ethische Fragen mögen offensichtlicher und schwieriger werden, aber dem steht ein nicht unbedeutender Nutzen gegenüber. Die Gesundheitskosten steigen nicht zuletzt wegen des medizinischtechnischen Fortschritts, der wiederum sehr unmittelbar der Bevölkerung zugute kommt.

Dank dem Einsatz besserer Diagnostik- und Behandlungsmethoden stieg die Lebenserwartung bei Geburt deutlich, beispielsweise bei den Männern in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren von 71,7 Jahren auf 77,3 Jahre. Unter anderem ging etwa deren Mortalität wegen Herzkrankheiten massiv zurück (um 36 % zwischen 1991 und 2004). Auch andere Indikatoren weisen in eine ähnliche Richtung. Aber die Menschen leben dank dem medizinischen Fortschritt nicht nur länger, sondern auch beschwerdefreier und gesünder. So ging in Deutschland der Krankenstand (der Anteil der kranken Beschäftigten) zwischen 1991 und 2004 von 4,9 % auf 3,4 % zurück.

Und da krankheits- und unfallbedingte Arbeitsausfälle auch die Volkswirtschaft belasten, in Form sowohl von Produktivitätsverlusten als auch von Mehrausgaben für Stellvertretungslösungen, bringt der medizinische Fortschritt eben auch unmittelbare volkswirtschaftliche Gewinne. Dank besserer Prävention, wirksamerer stationärer und ambulanter Behandlungen sowie Rehabilitationsmassnahmen ist sowohl die Zahl als auch die Dauer der Arbeitsausfälle zurückgegangen. Davon profitiert neben dem Patienten und seinem beruflichen Umfeld auch dessen Familie. Letzteres wird oft übersehen. Dank professioneller Pflege in Institutionen und dank kürzerer Behandlungsdauer werden aber auch die Angehörigen signifikant entlastet, und können, sofern sie im Arbeitsmarkt integriert sind, ihre Arbeitskraft voll an ihrer Arbeitsstelle einsetzen.

Der «Cluster» Gesundheit

Noch offensichtlicher ist natürlich die direkte Rolle des Gesundheitssektors als eines besonders wichtigen Arbeitgebers. 2008 waren in Deutschland 4,6 Millionen Personen (11,5 % der Beschäftigten) direkt im Gesundheitssektor im engeren Sinne tätig, eine halbe Million mehr als zehn Jahre zuvor.

Dazu kommen jedoch noch zahlreiche Wirtschaftssektoren, die unmittelbar oder zumindest indirekt vom Gesundheitssystem abhängen, wie zum Beispiel die Hersteller von Arzneimitteln (Pharma, Biotech) und von Medizintechnik (Implantate, Diagnostik, etc.), aber auch die Versicherungen, der Tourismus (Wellness-Angebot), ja sogar die Sportindustrie (Prävention). All diese Branchen bieten nicht nur direkt Arbeitsplätze in Deutschland, sondern sind auch die Basis einer blühenden Exportindustrie. So exportierten 2005 die dem Gesundheitssektor im engeren Sinne vor- und nachgelagerten deutschen Unternehmen Waren im Wert von 55 Mrd. Euro.

Diese Industriezweige bergen auch ein immenses Innovations- und Wachstumspotential: 8 % der 2009 eingereichten EU-Patente betreffen Anwendungen im Gesundheitsbereich. In der Schweiz ist die Stellung der Gesundheitsindustrie im weitesten Sinne noch größer: Mit Novartis und Roche stammen zwei der weltweit größten fünf Firmen aus der Schweiz – die anderen drei sind Pfizer (USA), Sanofi- Aventis (Frankreich) und GlaxoSmith- Kline (Grossbritannien). Und jeder zehnte europäische Arbeitsplatz der Medizintechnikbranche befindet sich in der Schweiz, bei einer Gesamtbevölkerung von lediglich 7,8 Millionen Einwohnern. Es gibt wohl kein anderes Land auf der Welt, das mit gezielten internationalen Akquisitionen, der frühen Fokussierung auf den Pharmabereich und signifikanten Forschungsinvestitionen (2008 entfiel die Hälfte der Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der Schweiz allein auf den Sektor «Gesundheit») so sehr die andere Seite der Medaille «Gesundheit» betont und genutzt hat wie die Schweiz. Hier ist über die Jahrhunderte hinweg ein eigentlicher «Cluster» entstanden.

Mehr Markt bringt mehr Nachhaltigkeit

Was indessen in anderen Bereichen der Volkswirtschaft gilt, trifft auch auf den Gesundheitsbereich zu. Eine nachhaltige Entwicklung setzt voraus, dass die Anreize in diesem Bereich nicht zu sehr verzerrt sind, dass jeder Nachfrager und jeder Anbieter Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen muss und das auch tut.

Mehr Kostenwahrheit im Gesundheitswesen, mehr Subsidiarität, also mehr Selbstbehalt und Eigenfinanzierung, mehr Selbstverantwortung sowie mehr Wettbewerb – je mehr Reformen im Gesundheitswesen in diese Richtung gingen, umso mehr würde verhindert, dass das Gesundheitswesen künstlich expandiert. Es würde nicht gewissermaßen eine Blase entstehen, sondern nur jene Expansion erfolgen, die dem wachsenden Wohlstand entspricht.

Zugleich würde sich aber auch die andere Seite der Medaille, das Wachstumspotenzial des Gesundheitssektors, der starke persönliche und volkswirtschaftliche Nutzen des medizinischen Fortschritts, nachhaltig entwickeln, nicht aufgebläht, nicht staatlich angeheizt, sondern im Gleichschritt mit den finanziellen Möglichkeiten der Gesellschaft.

Dieser Artikel erschien in der «ärztepost» in der Ausgabe 3/2011.

Der Originaltitel lautete: «Die Medaille hat auch eine Vorderseite».