Norbert Raabe: Herr Müller-Jentsch, die Wohnbevölkerung der Schweiz ist 2010 um 84’300 Menschen gestiegen. Wie schätzen Sie diese Zunahme ein?

Daniel Müller-Jentsch: Die Schweiz lebt seit Jahrzehnten mit einer konstant hohen Zuwanderung. In den vergangenen 30 Jahren hat die Bevölkerung um rund 1,5 Millionen Menschen zugenommen, also ein Trend von 50’000 Menschen pro Jahr. Mit diesem Zuwachs konnte die Schweiz lange gut leben.

Das hat sich in letzter Zeit allerdings beschleunigt…

Ja, in den letzten fünf Jahren lag die Zuwanderung jeweils zwischen 50’000 und 100’000 Personen. Ein Durchschnitt von 70’000 bis 80’000 scheint also der neue mittelfristige Trend zu werden.

Woran liegt das? Ist wirklich die vielgescholtene Personenfreizügigkeit die Ursache?

Sie ist ein Faktor, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung spielt eine wichtige Rolle. Die Zunahme der Einwanderung hatte schon fünf Jahre vor Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit begonnen. Der Zuzug von Menschen aus dem Ausland wird also vor allem von einem Sog aus dem Arbeitsmarkt verursacht.

Laut den neuen Daten des Bundesamtes für Statistik lebt mittlerweile jede achte Person in einer der fünf Grossstädte Genf, Lausanne, Basel, Bern und Zürich. Kann man allgemein sagen, dass die Städte immer voller werden?

Nicht grundsätzlich. In den Metropolregionen Zürich und Genf lag die Zunahme in den vergangenen zehn Jahren zwar deutlich über dem Schweizer Durchschnitt. Doch war sie in Bern und Basel tiefer.

Also gibt es in der Schweiz keine eigentliche «Verstädterung»?

Es geht schon in Richtung der Städte, aber eben in die Metropolregionen. Was Genf betrifft, rede ich da vom ganzen Seebecken. Und der Grossraum Zürich reicht letztlich von Schaffhausen bis nach Zug.

Sind mit der heutigen Einwanderung wirklich die Grenzen der Kapazität der Schweiz erreicht?

Durch die konstant hohe Netto-Zuwanderung treten mittlerweile die negativen Begleiterscheinungen in den Vordergrund: Wohnungsmangel, Zersiedelung des Mittellandes, Verkehrsengpässe – die bekannten Phänomene.

Die Zuwanderung ist auch für die politische Mitte und die Linke ein Kernthema geworden, wenn auch erst seit kurzem…

In den ersten Jahren nach Beginn der Personenfreizügigkeit war die Kosten-Nutzen-Bilanz eindeutig positiv. Man hatte ein stärkeres Wirtschaftswachstum, mehr Steuereinnahmen. Und auch die weltweite Finanzkrise hat die Schweiz gut überstanden, weil die Zuwanderung die Binnennachfrage und die Baukonjunktur gestützt hat.

Steuert die Schweiz nach Ihrer Einschätzung wirklich auf die Marke von neun Millionen Einwohnern zu?

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass der heutige Trend anhält. Deshalb ist die Neun-Millionen-Schweiz ein mögliches Szenario. Aber nun kommt ein neuer Faktor ins Spiel, der die Dynamik verändern kann – nämlich der starke Franken.

Inwiefern?

Wenn die Währung in den kommenden Jahren auf dem heutigen Niveau bleibt, wird es wohl zu einem Verlust von vielen Arbeitsplätzen kommen, zumindest zu einer starken Abschwächung des Wirtschaftswachstums. Und damit würde sich auch der Sog aus dem Arbeitsmarkt auf Zuwanderer deutlich abschwächen.

Wäre das der einzige mögliche Effekt eines starken Frankens?

Auf der anderen Seite wäre ein Schweizer Lohn in Franken im internationalen Vergleich sicher attraktiv. Allerdings vor allem für Grenzgänger, bei denen die Lebenshaltungskosten vor allem im Euroraum anfallen. Die nächsten Monate werden zeigen, ob der starke Franken zu einem Trendbruch bei der Zuwanderung führt.

Dieses Interview erschien im Tages-Anzeiger Online vom 26. August 2011