Das Konzept der Gemeindeautonomie bringt es mit sich, dass Fusionen zwischen mehreren Gemeinden nur erfolgen, wenn die Bevölkerung in jeder Gemeinde der Fusion zustimmt.  An dieser Bedingung einer «Win-win»-Situation für alle Fusionskandidaten sind schon einige Fusionsvorhaben, über deren grundsätzliche Zweckmässigkeit aus übergeordneter Sicht wenig Zweifel bestehen, gescheitert. Emotionelle Aspekte mögen bei diesen Entscheidungen eine Rolle gespielt haben, wichtiger waren aber oft die finanziellen:

In guten, aber nicht in schlechten Zeiten…

Ist die Finanzkraft benachbarter Gemeinden nicht identisch, nimmt die finanzstärkere Gemeinde mit einer Fusion Nachteile in Kauf. Sofern sie diese nicht durch Vorteile wie z.B. eine effizientere Leistungserbringung, die eine Erhöhung des Steuerfusses verhindert, oder bessere Entwicklungschancen kompensiert sieht, wird sie an einer Fusion nicht interessiert sein, auch wenn die Fusion für den gesamten Fusionsperimeter langfristig lohnenswert wäre.

Gerade bei der Fusionsdynamik in Agglomerationen zeigt sich die Rolle der Finanzkraftunterschiede deutlich, am besten am Beispiel des Tessins: Der Kanton strebt seit längerem eine «Defragmentierung» der Gemeindestruktur an, um die Entwicklungsaussichten der Zentren zu verbessern. Um die relativ finanzstarken, attraktiven Gemeinden Lugano und Mendrisio hat das bisher gut funktioniert. Im November 2011 gaben die Stimmbürger in beiden Agglomerationen grünes Licht für die mittlerweile zweite Fusionswelle.

Bisher noch keine Fusionen erfolgten hingegen um das eher finanzschwache Locarno und die träge Kantonshauptstadt Bellinzona. Am 25. September 2011 wurde über den Anschluss von sechs Gemeinden an Locarno abgestimmt. Während die Stimmbürger in Locarno selbst und in der kleinen, finanzschwachen Gemeinde Mergoscia den Zusammenschluss klar befürworteten, votierten die Stimmbürger der anderen fünf, teilweise deutlich finanzstärkeren Gemeinden dagegen. Diese Ablehnung lässt sich nicht damit begründen, dass ein «Gross-Locarno» weniger zweckmässig wäre als ein «Nuova Lugano», sondern sie ist allein auf die ungünstigere Konstellation der Steuerkraftunterschiede zurückzuführen.

Dieses Prinzip lässt sich nicht nur im Querschnitt, sondern auch über die Zeit beobachten: Zwischen 1893 und 1934 schlossen sich nicht weniger als 51 Gemeinden insgesamt 14 Kernstädten an. Davon alleine 20 an Zürich, je 5 an Winterthur und Frauenfeld, 4 an Biel, je 3 an Bellinzona und Genf, je 2 an Kreuzlingen, St. Gallen und Thun sowie je 1 an Basel, Bern, La Chaux-de-Fonds, Langenthal und Neuchâtel. Zu jener Zeit waren die Städte Zentren des ökonomischen Aufschwungs. Landflucht und Urbanisierung waren die Folge.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert war hingegen aufgrund der Desindustrialisierung und Umstrukturierung der Städte von Stadtflucht und Suburbanisierung gekennzeichnet.

In dieser Zeit fand um die grösseren Städte keine einzige Eingemeindung statt. Erst seit Mitte der 1990er Jahre zeichnet sich eine Wiederbelebung der Städte ab. Die Folge sind abermals vermehrt Fusionsdiskussionen in Agglomerationen.

Speckgürtel fühlen sich durch finanzschwache Zentren bedroht

Wer die Chancen schon Anfang des 20. Jahrhunderts packte, hat sich möglicherweise grosse Vorteile erschaffen: Es ist zumindest kaum vorstellbar, dass Zürich zu einem derart wichtigen wirtschaftlichen Zentrum herangewachsen wäre, hätten sich nicht 1893 und 1934 in zwei grossen Stadterweiterungsprojekten insgesamt 20 Gemeinden der Kernstadt, die ursprünglich nur die heutige Altstadt umfasste, angeschlossen.

Solch umfangreiche Zusammenschlüsse von Kernstadt und Umland dürften in Zukunft in den meisten Regionen eher unwahrscheinlich sein. Und zwar nicht, weil sie heute weniger zweckmässig wären – denn die funktionale Verflechtung zwischen diesen Gebietskörperschaften ist heute bestimmt deutlich stärker als zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und auch nicht aufgrund wachsender kultureller Differenzen zwischen Kernstadt und Umland – denn diese waren im ausgehenden 19. Jahrhundert, als die historische Beziehung «städtische Herren – ländliche Untertanen» noch stärker nachhallte, nicht kleiner. Vielmehr entstanden im Zuge der grossen Suburbanisierungswellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um viele Städte «Speckgürtel» aus finanzstarken Gemeinden mit tiefen Steuerfüssen. Dass diese ihre Privilegien nicht einfach aufgeben und die Zentrumsleistungen der Stadt nicht freiwillig mitfinanzieren, versteht sich von selbst.

Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in der Avenir-Suisse-Studie «Gemeindeautonomie zwischen Illusion und Realität».