«Wetzikons grösste Solar-Anlage knackt die Traum-Grenze», jubelte der «Tages-Anzeiger»: In nur drei Jahren und vier Monaten erzeugte dieses zukunftsweisende Projekt 100‘000 kWh Strom. «Wie lange braucht das AKW Leibstadt dafür?», fragte Professor Lino Guzzella. Und viele Experten im Publikum wussten die Antwort: fünf Minuten.

«Wie realistisch ist die Energiewende?», hiess das Thema des Abendlichen Gesprächs, zu dem Avenir Suisse einlud, um das Dossier «avenir spezial» zu lancieren, bei der Premiere zum Thema Energie. Lino Guzzella bot sich für diesen Anlass an. Der 55-jährige, in Zürich aufgewachsene Secondo ist seit dem 1. August der neue Rektor der ETH Zürich «mit einem 80-Prozent-Pensum, also montags bis donnerstags und samstags und sonntags – der Freitag soll der Lehre und der Forschung vorbehalten bleiben». Er berät als Professor für Thermotronik die Autobranche beim Bau von effizienteren Motoren. Und er machte, wie er erzählte, vor 32 Jahren seine ersten praktischen Erfahrungen als Maschinenbauingenieur bei Escher-Wyss – im Gebäude, in dem sich die Büros von Avenir Suisse befinden.

Fünf Milliarden wollen leben wie wir

In seinem fulminanten Referat warb der Wissenschafter um Realismus, unter dem Motto von Nobelpreisträger Richard Feynman: «Für eine erfolgreiche Technologie kommt die Realität vor der Propaganda, denn die Natur lässt sich nicht zum Narren halten.» Gegenüber der künftigen 2000-Watt-Gesellschaft, die gerade auch ETH-Professoren predigen, zeigte sich der ETH-Rektor skeptisch. Er wies darauf hin, dass die Schweizer bis 1950 auf diesem Niveau lebten – «in einer agrarischen, undemokratischen und nicht emanzipierten Gesellschaft». Danach befreite die Technik, von der Waschmaschine bis zum Putzroboter, vor allem die Frauen von viel Mühsal: «Ohne Ingenieure gäbe es keine Emanzipation.» Heute brauchen die Schweizer das Dreifache an Strom. Fünf Milliarden Menschen leben aber noch auf dem agrarischen Niveau, stellte Lino Guzzella fest: «Sie wollen alle auf unser Niveau hoch – und sie haben das Recht dazu.» Denn: «Ohne Energie ist es ein lausiges Leben.»

Der Stromverbrauch steigt in der Schweiz seit sechzig Jahren um jährlich drei Prozent. Global gesehen wird sich dieser Trend sicher fortsetzen: «Ich habe noch nie eine Prognose zum Energieverbrauch gesehen, die nicht von der Realität überholt worden wäre.» Aber lässt sich der stetig wachsende Bedarf wenigstens mit einer Energieproduktion decken, die keine Risiken für Menschen und Umwelt bietet? 95 Prozent des Schweizer Stroms, zeigte Lino Guzzella, kommen aus AKW und Wasserkraftwerken, nur 5 Prozent aus den sogenannten neuen Erneuerbaren – und davon stammt der grösste Teil aus Kehrichtverbrennungsanlagen, der Beitrag der Solarenergie lässt sich auf Grafiken kaum darstellen.

Strom lässt sich kaum speichern

Daran ändere sich in den kommenden Jahrzehnten kaum etwas, zeigte er mit einer Übersicht über die Optionen. Die Geothermie, «von weitem interessant, von nahe riskant», biete extreme, von niemandem tragbare Investitionsrisiken, weil mit ungewissem Erfolg bis zu fünf Kilometer tief gebohrt werden müsse, um die nötige Temperaturdifferenz von mindestens 150 Grad zu schaffen. Mit der Photovoltaik hat Deutschland schon 100 Milliarden Euro in den Sand gesetzt – «unglaublich, wie da Volksvermögen verschoben wird» –, und die Deutschen kämpfen jetzt mit dem Problem, dass die Solaranlagen 75 bis 80 Prozent des Stroms im Sommerhalbjahr erzeugen: «Beim Bedarf ist es umgekehrt – im Sommer brauchen wir wenig Strom, im Winter viel.»

Das Problem lasse sich auch nicht mit Speichern lösen. So kann das derzeit ausgebaute Pumpspeicherwerk Linth-Limmern das AKW Gösgen nur 37 Stunden lang ersetzen: «Um den saisonalen Bedarf zu decken, bräuchten wir um die 100 solcher Anlagen.» Die Windenergie schliesslich könne man mit derzeit 2 Prozent der weltweiten Produktion «immerhin auf einer Grafik darstellen», aber die Probleme des Ausbaus und des Betriebs würden unterschätzt.

Von Photovoltaik reden, Kohle verbrennen

«Ist die Energiewende schon am Ende?», fragten Direktor Gerhard Schwarz und Energieexperte Urs Meister den Referenten. «Fukushima ist auch eine Realität», meinte Lino Guzzella. Wir könnten sie nicht wegdiskutieren, obwohl die AKW in der Schweiz auf einem weit höheren Sicherheitsniveau liefen. Er wies aber darauf hin, dass sich in den USA inzwischen «unkonventionelles» Erdgas zu einem Zehntel des Erdölpreises fördern lässt und dass es enorme Kohlevorkommen gibt, «billig und günstig verteilt»: «Mit Kohle haben wir noch für 1000 Jahre Energie – alle reden von Photovoltaik, die Welt aber verbrennt Kohle.» Bis eine neue Energieform einen massgeblichen Beitrag leistete, dauerte es bisher mindestens fünfzig Jahre; daran werde sich nichts ändern: «Es geht nicht von heute auf morgen.»

Der  ETH-Rektor forderte deshalb sehr viel mehr Forschung und Entwicklung, aber auch «ein Bewusstsein in der Gesellschaft, dass Naturwissenschaften und Technik etwas Gutes sind». Als Experte leistet er denn auch einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtig einzig sinnvollen Strategie, den Energieverbrauch mit effizienteren Maschinen und Geräten auf die Hälfte zu drücken: «Ich kann Ihnen locker ein Auto hinstellen, das statt der durchschnittlich 6,70 Liter auf 100 Kilometer nur 3,35 Liter braucht, allerdings fährt es nicht so schnell und beschleunigt nicht so rasch wie die Autos, die wir heute kennen. Etwas Verzicht muss schon auch sein.»