Francis Barlow: The Boy Who Cried Wolf, 1687 (Quelle: Wikimedia Commons)

Francis Barlow: The Boy Who Cried Wolf, 1687 (Quelle: Wikimedia Commons)

Experten, die sich mit der zukünftigen Finanzierung der Alterssicherung befassen, geht es in diesen Jahren wie dem Hirtenjungen aus Äsops Fabel, der «Wolf!» schrie: Man glaubt ihnen nicht mehr. Düstere Prognosen werden gerne (zuletzt am Montag im Tages Anzeiger) mit dem Argument entkräftet, die AHV schreibe nach wie vor schwarze Zahlen, obwohl doch für heute schon Ende der 1990er-Jahre der Teufel in Form riesiger Defizite an die Wand gemalt worden sei. In der Tat, die damalige Fehleinschätzung ist frappant. Das macht sie jedoch nicht minder erklärbar.

Zukunftsforschung ist keine exakte Wissenschaft

Wie so viele Projektionen erfolgte sie gemäss dem «more of the same»-Prinzip, wonach die Zukunft als «Gegenwart plus Fortsetzung schon beobachtbarer Trends» skizziert wird. Diese Art der Zukunftsforschung irrt oft. Ein Beispiel: Als Neil Armstrong 1969 den Mond betrat, wurde für die Jahrtausendwende die Eroberung der Galaxie vorausgesagt. Dieser sind wir heute kaum einen Schritt näher, dafür aber hat die Erfindung des Internets die Welt in einer nicht vorhergesagten Art umgekrempelt. Auf die AHV-Prognosen bezogen heisst das:  Ende der 1990er-Jahre blickte die Schweiz auf ein Jahrzehnt Nullwachstum zurück, sie war die alte, arthritisgeplagte Frau in Europa, von Einwanderungswellen hochqualifizierter Arbeitnehmer keine Spur. Entsprechend düster fielen die AHV-Hochrechnungen aus, die sich gezwungenermassen auf die – damals realistischsten – Szenarien zur Entwicklung des Wirtschaftswachstums und der Erwerbsquote stützten –  Szenarien, die sich glücklicherweise nicht bewahrheiteten.

Wenn aufgrund dieser Erfahrungen nun die heutigen, abermals düsteren Vorhersagen, die für das Jahr 2030 ein Defizit von 8 Mrd. Fr. (Bundesamt für Sozialversicherungen) bzw. 12 Mrd. Fr. (Avenir Suisse) voraussagen, nicht mehr ernst genommen werden, ist dies doppelt gefährlich, denn aufgrund der positiven Entwicklung (Wirtschaftswachstum, Zuwanderung)  der letzten zehn Jahre basieren diese –  ganz im Gegensatz zu den Projektionen Ende der 1990er Jahre –  auf verhältnismässig optimistischen Annahmen. So rechnet das Bundesamt für Statistik in seinem mittleren Szenario neu mit einer mittelfristigen Konvergenz der Nettozuwanderung auf jährlich 22‘500 Personen (gegenüber 15‘000 im Szenario von 2005). Interessant wird die Sache bei den AHV-Prognosen des Bundesamts für Sozialversicherungen.  Auch diese basieren auf dem «mittleren Bevölkerungsszenario». Allerdings auf ihrem eigenen. Jenes geht von einer Konvergenz der jährlichen Nettozuwanderung auf 50‘000 Personen bis 2020 und 40‘000  bis 2030 aus –  angesichts  der von links bis rechts geforderten Massnahmen gegen die Zuwanderung eine beinahe unverschämt optimistische Annahme, die zugleich den Hauptgrund für die Differenz zur Avenir-Suisse-Prognose darstellt. Sollte sich das «more of the same»-Prinzip (wie so oft) nicht bewahrheiten, könnte die Wahrheit einst sogar noch düsterer Aussehen als das Gros der aktuellen Projektionen.

Machen Sie sich selbst ein Bild

Prognosen basieren auf Szenarien. Und Szenarien können eintreffen oder auch nicht. Avenir Suisse hat deshalb schon vor einem Jahr ein Berechnungstool zu den Finanzierungsaussichten der 1. Säule zum Download bereitgestellt. Das Tool erlaubt Ihnen die Prognose der AHV-Rechnung bis ins Jahr 2040 aufgrund Ihrer eigenen, beliebigen Szenarien für Wirtschaftswachstum, Demographie und Anlagerenditen.  Sie werden beim Erproben verschiedener Kombinationen schnell merken: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Junge grundlos «Wolf!» schreit, ist diesmal verschwindend klein.  Und die Schafherde grast gemütlich vor sich hin, statt Vorkehrungen zu treffen.