Die Politik tut sich mit Reformen in den Sozialversicherungen schwer. Sie sind unpopulär, und die Folgen der Untätigkeit werden erst mittel- und langfristig sichtbar. Das verstärkt den Anreiz, notwendige Massnahmen auf die lange Bank zu schieben. So entsteht Reformstau. Es ist deshalb wichtig, die Erfolgsfaktoren zu kennen, die diesen Stau auflösen können. Mehrheitsfähig gewordene Sozialreformen in Ländern wie Deutschland, Schweden und den Niederlanden liefern Hinweise:

# 1 Ein politisches Tauschgeschäft

Sozialreformen müssen den politischen Tausch ermöglichen. Dieser baut Elemente in eine Reform ein, die zwar zur Erreichung des betreffenden Reformziels nicht notwendig sind, aber wichtige Anliegen der Reformgegner in andern Bereichen berücksichtigen.  So könnte die Senkung des Umwandlungssatzes zwecks nachhaltiger Finanzierung der zweiten Säule gegen die Abschaffung des Koordinationsabzugs getauscht werden. Damit käme man einem Anliegen der politischen Linken entgegen, die den Kreis der Versicherten in der beruflichen Vorsorge ausweiten und Teilzeitangestellte, darunter viele Frauen, in  die zweite Säule integrieren möchte.

# 2 Vorrang den Automatismen

Automatismen können in Gesetzen helfen, Blockaden bei schwierigen Entscheiden vorwegzunehmen und durch vordefinierte Mechanismen zu lösen. So kann die Politik bereits heute festlegen, wie das Rentenalter bei einer signifikanten Zunahme der Lebenserwartung anzupassen ist. Ebenso kann sie im Voraus definieren, wie die daraus resultierende verlängerte Bezugsdauer bei der Bestimmung des Umwandlungssatzes berücksichtigen werden muss. Die Politik bleibt dabei Kontrollinstanz. Sie bestimmt, wann und wie schnell auf potenzielle gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren ist.

# 3 Neue Paradigmen einführen

Fundamentale Reformen werden manchmal leichter akzeptiert als inkrementelle Revisionen. Das ist deshalb der Fall, weil die unmittelbaren Gewinne und Verluste der verschiedenen Interessengruppen weniger eindeutig sind. Auf diese Weise kann sich eine Grundsatzdebatte über die Gestaltung des Idealmodells ergeben. Grabenkämpfe, in denen jeder sein Gärtchen verteidigt, können vermieden werden. Die freie Wahl der Vorsorgeeinrichtung wäre ein solcher Paradigmenwechsel.

#4 Es geht nicht ohne Übergangsfristen

Hinreichend lange Übergangsfristen müssen bis zur Implementierung der Reformen eingeräumt werden. Die unmittelbar Betroffenen sollen sich an die neue Situation anpassen können. So müssten Arbeitnehmer, die kurz vor der Pensionierung stehen, bei einer schrittweisen Erhöhung des Rentenalters um 1,5 Monate pro Jahr ihre Arbeitszeit um wenige Monate verlängern. Jüngere Arbeitnehmer hätten mehr Zeit, um sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen. Längere Übergangsfristen tragen auch der Tatsache Rechnung, dass ältere, von Reformen unmittelbar betroffene  Bürger überproportional an Abstimmungen teilnehmen.

# 5 Kostentransparenz für die Bürger

Fünftens schliesslich sind die Erfolgschancen von Sozialreformen grösser, wenn die finanziellen Risiken der Sozialwerke nicht mehr wegdiskutiert werden können. Die Sanierung der IV ist ein Beispiel dafür. In der beruflichen Vorsorge spüren die Bürger den finanziellen Druck nicht direkt. Die imposante Höhe der beruflichen Vorsorgekapitalien – 755 Mrd. Fr. im Jahr 2010 – vermittelt ein falsches Sicherheitsgefühl. Die Notwendigkeit, heute Massnahmen zu treffen, um die finanzielle Stabilität von morgen zu sichern, wird dabei übersehen. Deshalb leisten Reformen wie die korrekte Bestimmung des Umwandlungssatzes und die eindeutige Definition des Deckungsgrades einen wichtigen Beitrag zur Kostentransparenz in der beruflichen Vorsorge. So sind die Bürger besser in der Lage, die Tragweite heutiger Entscheide in die Zukunft zu projizieren.

Weitere Beiträge aus dieser Reihe:

Mehr Informationen zum Thema finden Sie in dem kürzlich bei NZZ Libro erschienenen Buch «Verjüngungskur für die Altersvorsorge».