Herr Müller-Jentsch, was passt Ihnen nicht an der Schweizer Verkehrspolitik?

Wegen der zunehmenden Überlastung der Verkehrsträger Schiene und Strasse bedarf es einer grundlegenden verkehrspolitischen Debatte. Der Problemdruck steigt und das spüren die Menschen in Form von Staus, überfüllten Zügen und steigenden Kosten. Die Lösung dieser Probleme liegt im Mobility Pricing.

Mobility Pricing tönt ein bisschen sperrig. Können Sie das erläutern.

Es geht um eine Umschichtung der Verkehrsfinanzierung weg von Steuern und hin zur Benutzerfinanzierung. Damit wollen wir zwei Dinge erreichen: Mehr Kostenwahrheit. Und eine Steuerung des Mobilitätsverhaltens über Anreize. Ein zentrales Problem ist nämlich, dass die Verkehrsnachfrage sehr stark schwankt. Dadurch gibt es Staus während der Stosszeiten und auf Engpassstrecken, während ansonsten viel Kapazität brachliegt.

Und mit einer Ausdifferenzierung der Tarife wollen Sie eine bessere Auslastung erreichen?

Differenzierte Tarife würden helfen, die Verkehrsspitzen zu glätten und die Kapazität gleichmässiger auszulasten. Dadurch liessen sich Staus und überfüllte Züge vermeiden. Ausserdem könnten Milliardeninvestitionen in Kapazitätsausweitungen gespart werden. In der Hotellerie und im Flugverkehr ist es selbstverständlich, dass ich in der Hauptsaison mehr für eine Hotelübernachtung oder für ein Ticket zahle als in der Nebensaison bzw. den Randzeiten. Bei Strasse und Schiene hingegen haben wir uniforme Tarife.

In Ihrer Studie verweisen Sie auf die Tarifgestaltung in der Luftfahrtbranche.

Auch Fluglinien sind mit stark schwankender Nachfrage konfrontiert und nutzen die Tarifgestaltung zur gleichmässigeren Kapazitätsauslastung. Dadurch kommt die Swiss auf eine Sitzplatzauslastung von 81 Prozent. Die durchschnittliche Sitzplatzauslastung der SBB hingegen beträgt im Fernverkehr 32 Prozent und im Regionalverkehr sogar nur 20 Prozent. Trotzdem haben wegen der Verkehrsspitzen alle das Gefühl, dass System steht am Rande seiner Kapazität.

Und wieso wird die Einführung differenzierter Tarife in der Schweiz nicht intensiver diskutiert.

In der Schweiz sind differenzierte Mobilitätstarife bisher ein politisches Tabu. In Fachkreisen geniesst Mobility Pricing schon seit Jahren grosse Akzeptanz. In der Politik fand es hingegen bisher wenig Anklang – weil die Benutzer von Strasse und Schiene liebgewonnene Privilegien ungern aufgeben. Man hat die Bevölkerung über Jahrzehnte mit verbilligter Mobilität angefixt und so die Leute gewissermassen zu Mobilitätsjunkies gemacht. Entsprechend unangenehm ist nun der Entzug über eine höhere Benützerfinanzierung.

Und Sie wollen jetzt den Leuten den kalten Entzug schmackhaft machen?

Wir plädieren nicht für den kalten Entzug, sondern für einen graduellen Umbau. Es geht um eine aufkommensneutrale Umschichtung der Finanzierungsbasis im Verkehr – weg von Steuern und hin zu Benutzerfinanzierung. Unterm Strich soll der Bürger nicht mehr zahlen. Wer allerdings mehr Mobilität konsumiert, soll auch mehr zahlen. Das ist fair, ökologisch nachhaltig und ökonomisch sinnvoll.

Konkret fordern Sie zum Beispiel die Abschaffung des Senioren-GA.

Die tieferen GA-Preise für Senioren sind weder sozial- noch verkehrspolitisch zu rechtfertigen. Wenn man eine bestimmte Altersgrenze überschritten hat, erhält man einen Rabatt. Das ist die einzige Bedingung – unabhängig vom Einkommen. Man sollte das Senioren-GA mindestens an die Bedingungen knüpfen, dass dieses nur ausserhalb der Stosszeiten gilt, denn Rentner sind zeitlich besonders flexibel. Das wäre der richtige Anreiz, um das System während der Rushhour zu entlasten. Noch besser wäre der Ersatz des Rentner-GA durch ein Talzeiten-GA, das für alle Altersgruppen gleichermassen gilt.

Sie verlangen aber auch höhere Bahntarife während der Stosszeiten und für bestimmte Strecken. Wenn die Bahn teuerer wird, nehmen die Leute aber wieder öfters das Auto.

Unsere Vorschläge zur Einführung des Mobility Pricing sind verkehrsträgerneutral. Wir wollten uns bewusst nicht in die Grabenkämpfe zwischen Strassen- und ÖV-Lobby begeben. In beiden Systemen gilt es den Nutzer stärker an den Kosten zu beteiligen. Entsprechende Reformen müssen deshalb bei Strasse und Schiene parallel umgesetzt werden. Sonst käme es zu ungewünschten Ausweichbewegungen und neuen Engpässen, die nicht zu bewältigen sind.

… und wie wollen Sie das Mobility Pricing konkret umsetzen?

Mobility Pricing bedeutet Benutzerfinanzierung und diese kann auf vielfältige Art umgesetzt werden. Mit einem Roadpricing, oder einer Tunnelgebühr oder durch differenzierte Bahntarife. Die Umsetzung kann in kleinen oder grossen Schritten erfolgen. Wir haben verschiedene Fallstudien zusammengetragen, welche die positiven Erfahrungen im Ausland aufzeigen – mit unterschiedlichen Formen eines Mobility Pricing. Interessanterweise gibt es auch in der Schweiz mit der LKW-Maut (LSVA) bereits ein erfolgreiches Beispiel.

Aber jedes Mal, wenn man die LSVA erhöhen will, geht ein Lamento der Lastwagenbranche durchs Land…

Trotzdem ist die LSVA ein Erfolgsmodell, das von anderen Ländern kopiert wurde. Die Gebühr richtet sich nach den gefahrenen Kilometern, den Emissionen und dem Gewicht, sprich der Infrastrukturbelastung. Sie hat auch dazu geführt, dass man das starke Wachstum des Transitverkehrs abbremsen konnte. Und sie hat seit ihrer Einführung im Jahre 2001 Gesamteinnahmen von 14 Milliarden Franken gebracht. Dieses Geld floss in den Ausbau der Infrastruktur und entlastete somit den Steuerzahler. Die LSVA zeigt den Weg in die Zukunft.

… zum Beispiel mit einer Tunnelgebühr für den Gotthard-Strassentunnel, wie sie in Ihrem Diskussionspapier schreiben? Verkehrsministerin Doris Leuthard sagte kürzlich, dies sei kein Thema

Tunnelgebühren sind strittig, aber die gesamte Sanierung des Gotthards wird kontrovers diskutiert. Es wäre sinnvoll, vor allem bei stauträchtigen Tunneln eine Gebühr zu erheben. Als Pilotprojekt bietet sich der Gotthard an, aus verschiedenen Gründen. Es ist der längste Strassentunnel des Landes mit einem hohen Transitanteil und notorischen Staus. Vor allem aber stehen dort Sanierungskosten von 2–3 Milliarden Franken an, die die Benutzer finanzieren sollten, nicht der Steuerzahler. Aber auch bei anderen Problemtunneln, wie etwa dem Gubristtunnel, wäre eine Maut sinnvoll.

Die Verteuerung der Autobahnvignette hat fast einen Aufstand verursacht. Wieso sollten die Schweizer Verkehrsteilnehmer solche Tunnelgebühren schlucken?

Umfragen zeigen in der Tat eine geringe Zustimmung der Schweizer Bevölkerung für ein Road Pricing oder zeitliche differenziertere ÖV-Tarife. Bei der Tunnelgebühr am Gotthard ist die Akzeptanz dagegen relativ hoch. Das hängt wohl auch mit den leidvollen Erfahrungen mit Staus am Gotthard zusammen. Zudem ist das Prinzip der Tunnelgebühr im Grunde genommen schon etabliert.

Inwiefern etabliert?

Es gibt in der Schweiz mehrere Autoverladestrecken, etwa am Lötschberg, auf denen man eine Gebühr zahlen muss. In Österreich wird für die Durchfahrt von alpenquerenden Strassentunneln seit Jahren eine Sondermaut erhoben. Das Prinzip von Tunnelgebühren im Alpenraum ist somit bereits etabliert und man sollte aus diesen Erfahrungen lernen.

Sie kritisieren auch, dass der Bund 9 Milliarden Franken für den Bau der Autobahnen im Oberwallis und im Jura verlocht. Gönnen Sie den Wallisern und Jurassiern keine Autobahnen?

(Lacht) Wir gönnen allen Kantonen Autobahnen. Die Frage ist nur: Wer finanziert sie? Und eine andere Frage ist: Wie werden die knappen finanziellen Mittel innerhalb des Verkehrssystems verteilt? In der Vergangenheit wurden teils verkehrspolitisch fragwürdige Entscheide gefällt. Man hat die Verkehrsträger nach den Wünschen der Regionen ausgebaut. Das kam die Steuerzahler teuer zu stehen. Dazu haben wir in unserer Studie zwei Beispiele aufgeführt, den Autobahnbau im oberen Rhonetal und den Autobahndurchstich im Jura. Die beiden Projekte kosten 9 Milliarden Franken. Wenn man sich eine Karte zur Auslastung des Nationalstrassennetzes anschaut, dann sieht man, dass diese Strecken kaum befahren sind. Es sind verkehrstechnisch absolute Nebenstrecken. Gleichzeitig sind aber die Hauptarterien im Schweizer Mittelland überlastet. In einer Welt der knappen Mittel muss man sich fragen: Wo investiert man das Geld am sinnvollsten?

Es ist also aus Ihrer Sicht nicht sinnvoll, im Oberwallis die Autobahn fertig zu bauen? Für so eine Aussagen würde man Sie im Oberwallis kreuzigen.

Es geht auch nicht ums Oberwallis. Es ist verständlich, dass das Oberwallis auf Schliessung der Autobahnlücke pocht. Aber es ist trotzdem ein sehr teueres Projekt. Und die Autobahn im Oberwallis bleibt trotzdem eine Nebenstrecke. Zwischen Zürich und Bern ist die Nationalstrasse dagegen chronisch überlastet. Insofern muss man die Interessen des Oberwallis mit den Interessen der Metropolitanräume von Zürich und Bern abwägen.

Dieser Artikel erschien am 19. September 2013 im «Tages Anzeiger».
Mit freundlicher Genehmigung des «Tages Anzeiger».