Blick: Nach dem Urnengang: Ihre spontane Analyse?

Gerhard Schwarz: Das Wahlresultat bedeutet eine Spaltung des Landes, wie wir sie seit dem EWR nie mehr gesehen haben. Es ist eine Spaltung in drei Dimensionen.

Nämlich?

Zwischen Stadt und Land. Nicht zum ersten Mal haben sich ländliche Regionen, die am wenigsten mit Ausländern zu tun haben, am stärksten gegen die Zuwanderung ausgesprochen. Mit Ausnahme des Tessins. Dort stehen aber nicht Zuwanderer, sondern  Grenzgänger im Fokus.

Und der Röstigraben?

Das ist die zweite Spaltung – zwischen Romandie und Deutschschweiz, einschliesslich Tessin. Und dann haben wir noch eine dritte: zwischen der Elite, also dem Bundesrat, der Wirtschaft, fast allen Parteien und der einen Hälfte der Bevölkerung auf der einen Seite, und der knappen Mehrheit der Stimmenden auf der anderen Seite. Die Basis ist der Elite nicht gefolgt.

Droht jetzt Führungslosigkeit?

Diese Spaltungen lassen sich natürlich auch als Führungslosigkeit interpretieren. Die Schweiz war aber noch nie ein Land, das mit starker Führung funktioniert. In unserem politischen System ist die Führung immer die Basis, also das Volk. Das wird uns jetzt wieder einmal deutlich vor Augen geführt.

Der Bundesrat hat die Problematik der Zuwanderung einfach zu wenig ernst genommen?

Das ist die entscheidende Botschaft dieses Wahlausgangs.

Die positive Botschaft wäre: In der Schweiz regiert das Volk.

In jeder negativen Botschaft gibt es ein positives Element. Es war ja primär auch keine Abstimmung über Zuwanderung.

Wie bitte?

Es ging um drei Themen: Ausländer, die EU und  Wachstum. Oder anders: das Ergebnis nährt sich aus dem Wunsch nach gebremster Zuwanderung, besser kontrolliertem Wachstum und weiterhin genügend institutioneller Distanz zur EU.

Was ist jetzt zu tun?

Beim Wachstum haben wir vieles selber in der Hand. Wir können in den Städten verdichtet bauen, um die Zersiedelung zu bremsen, wir können im Verkehr Mobility-Pricing einführen. Wenn wir die Schweiz lebenswert erhalten wollen, müssen wir hier handeln.

Was ist mit der Zuwanderung?

Da ist es schwieriger, weil wir dafür Partner im Ausland brauchen. Aber bereits unter dem bestehenden Regime der Personenfreizügigkeit hätte sich vieles entschärfen lassen, wenn die bestehenden Gesetze rigider ausgeschöpft worden wären. Unbestritten bleibt, dass die Zuwanderung der Schweiz per saldo nützt. Aber wir müssen nach dem Urnengang diese Signale ernst nehmen und die Restriktionen in der Zuwanderung so weit ausreizen, wie dies in den bestehenden Regelungen möglich ist.

Die EU hat ebenfalls ein Zuwanderungsproblem.

Dieses erreicht langsam auch Regionen in Deutschland. Ob das Unbehagen der Bevölkerung irgendwann auch im politischen Berlin ankommt? Es wäre zu wünschen. England fährt eine restriktive Zuwanderungspolitik, und auch in Frankreich sind die Probleme augenscheinlich. Dort können sich die Strömungen nicht im Volk über ein direktdemokratisches System artikulieren.

Wird die EU reagieren?

Die Personenfreizügigkeit ist für die EU eine heilige Kuh, die sich kaum diskutieren lässt. Sie ist tabu. Dennoch wird es in der EU-Bevölkerung ähnliche Irritationen geben wie bei uns. Ob dies dazu führen wird, dass das Axiom der totalen Personenfreizügigkeit dereinst etwas «verunreinigt» wird? Ich weiss es nicht.

Welche Folgen erwarten Sie?

Es wird international negative Presse und scharfe Reaktionen geben. Aber: Wir haben jetzt zu einer Verfassungsbestimmung ja gesagt, und der Teufel liegt dann bekanntlich im Detail, bei der konkreten Ausgestaltung. Da gibt es einen gewissen Spielraum. Aufgabe des Bundesrates ist es nun, herauszufinden, welchen Verhandlungsspielraum es gibt. Das ist für mich die zentrale Frage: welchen Gestaltungsspielraum gibt es innenpolitisch, ohne den Volkswillen zu missachten, und aussenpolitisch, mit Blick auf die EU, ohne den Bilateralismus zu gefährden.

Wäre das so schlimm?

Ja, und es wäre geradezu absurd, wenn ausgerechnet die SVP mit diesem Abstimmungserfolg den Bilateralismus in Gefahr brächte. Schliesslich haben wir ihr dieses massgeschneiderte Paket zu verdanken. Wenn nun die Schweiz in eine Position käme, in der sie nur noch diese beiden Alternativen hätte, ganz abseits stehen oder der EU beitreten, und sich dann wohl oder übel für den Beitritt entscheiden müsste, dann wäre der «Erfolg» von heute ein gewaltiger Schuss nach hinten.

Dieses Interview erschien im «Blick» vom 10.2.2014.
Mit freundlicher Genehmigung des «Blick».