Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Februar war für viele Schweizer Unternehmer ein Schock. Nicht nur der freie Zugang zum wichtigsten Handelspartner EU, sondern auch die Rekrutierung von qualifiziertem Fachpersonal stehen auf dem Spiel. Letzteres stellt für viele ein operationelles Risiko dar. Bis die Politik Massnahmen definiert und umgesetzt hat, bleibt die  Unsicherheit während Jahren gross. Proaktive Unternehmen werden deshalb Lösungen in ihrem Einflussbereich suchen. Dabei liegt die Bindung älterer Mitarbeiter auf der Hand. Das Potenzial ist signifikant. Würde es gelingen, jeden Neurentner lediglich zwei Monate länger im Arbeitsprozess zu halten, würden im Nu jährlich 5000 neue Vollzeitstellen entstehen, die keine Kontingente irgendwelcher Art benötigten. Würde es gelingen, jeden älteren Mitarbeiter ein Jahr mit einem Arbeitspensum von 50% zu beschäftigen, würden jährlich 15’000 Stellen geschaffen. Diese Mitarbeiter sind gut qualifiziert, kennen die betrieblichen Prozesse und werden in den folgenden Monaten sicher nicht kündigen.

Mit der Bindung der älteren Mitarbeiter kann wertvolles Produkt-, Prozess-, Lieferanten- und Kundenwissen erhalten bleiben. (Bild: Fotolia)

Mit der Bindung der älteren Mitarbeiter kann wertvolles Produkt-, Prozess-, Lieferanten- und Kundenwissen erhalten bleiben. (Bild: Fotolia)

Mit der Bindung der älteren Mitarbeiter kann wertvolles Produkt-, Prozess-, Lieferanten- und Kundenwissen erhalten bleiben. Gerade Letzteres wird umso wichtiger, weil der Seniorenmarkt stark wächst und finanzkräftig ist. Ältere, vermögende Kunden wollen bei ihren Erb- und Finanzangelegenheiten, bei der Organisation von Kulturreisen oder bei der Wahl eines neuen Fernsehers lieber durch älteres Fachpersonal beraten werden, die eher ihre Bedürfnisse nachempfinden können.

Auch der Staat würde davon profitieren. Ein zusätzliches Arbeitsjahr mit einem 50%-Pensum würde ca. 1’200 Millionen Franken in die AHV-Kasse bringen. Es würde auch die notwendige Senkung des Umwandlungssatzes abdämpfen. Doch das Rentenalter bleibt für die Politik eine heilige Kuh. Mehr als eine Angleichung des Rentenalters bei den Frauen auf 65 Jahre sei dem Volk nicht zuzumuten, so der Grundtenor. Doch das Volk sieht es zum Teil anders. Die Erwerbsbeteiligung älterer Mitarbeiter nimmt zu: 2010 waren 18% der Arbeitnehmer 55 Jahre und älter; 3% mehr als zehn Jahre zuvor. Ein Fünftel der Erwerbstätigen plane, über das gesetzliche Rentenalter hinaus tätig zu bleiben, jeder fünfte tut es bereits heute schon. 60% der Arbeitgeber bekennen, dass die Beschäftigung von Senioren sinnvoll und nötig sei.

Der Vorwurf, dass eine Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters lediglich mehr ältere Arbeitslose generiere, muss klar widerlegt werden. Zwei Mal haben wir in der Schweiz das Frauenrentenalter erhöht, 2001 von 62 auf 63 bzw. 2005 auf 64 Jahre. Die Statistik zeigt klar, dass das effektive Rentenalter der Frauen diesen Sprüngen folgt. Die Schweiz geniesst beinahe Vollbeschäftigung. Die Aufnahme solcher zusätzlicher Personalressourcen würde künftig für unsere Wirtschaft kein Problem darstellen. Vor allem dann nicht, wenn die Rentenaltererhöhung in kleinen-, zum Beispiel Monatsschritten, erfolgen würde, wie es Deutschland zurzeit tut.

Die De-facto-Erhöhung des Rentenalters wird nicht alle Umsetzungsprobleme der Masseneinwanderungsinitiative lösen können. Sie stellt aber den Unternehmen ein wichtiges Instrument zur Verfügung, um ihre Rekrutierungsengpässe zu mildern. Die Politik ist dabei auch gefordert. Aufgrund ihrer Signalwirkung muss die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters ganz oben auf der Agenda der Altersvorsorgereform 2020 stehen: für die nachhaltige Finanzierung unserer Sozialwerke und für den Erhalt eines kompetitiven Wirtschaftstandorts Schweiz.

Dieser Artikel erschien im Magazin «Schweizer Versicherung» vom 01.Mai 2014.