Singapur hat 1983/84 sein Gesundheitssystem grundlegend reformiert. Der «National Health Plan» führte zu einem eigentlichen Paradigmenwechsel. Durch die Einführung eines kapitalbasierten Finanzierungssystems sollte einerseits die steuerbasierte Finanzierung der Krankheitskosten abnehmen und anderseits die Eigenverantwortlichkeit der Versicherten gestärkt werden. Das neu geschaffene «Medisave»-Programm (auch als Medical Savings Account bezeichnet) verpflichtet Erwerbstätige zum Aufbau eines Kapitalstocks, der später anfallende Gesundheitskosten decken soll. Mit der Reform gingen drei wesentliche Neuerungen einher:

  • Erstens verlagerte sich die Finanzierung der Gesundheitskosten von der staatlichen auf die individuelle Ebene.
  • Zweitens deckt Medisave nicht sämtliche Krankheitskosten. Die Patienten müssen sich – ähnlich wie in der Schweiz – mit eigenen Mitteln an den Kosten beteiligen (v.a. im ambulanten Bereich).
  • Und drittens ist Medisave keine Versicherung, sondern eine reine Kapitalakkumulation auf einem individuellen Gesundheitssparkonto. Ein Kapitalaufbau findet quasi automatisch statt, da im Durchschnitt die Gesundheitskosten vor allem in den späteren Lebensjahren anfallen.

gesundheitskosten-SingapurDas Medisave-Programm gleicht in den Grundzügen dem schweizerischen System der beruflichen Altersvorsorge. Die Beiträge auf das Medisave Sparkonto werden durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber geleistet – sie nehmen mit Alter und Einkommen zu.

Doch auch nach der Reform wird in Singapur weiterhin ein Teil der Gesundheitskosten über Steuern finanziert. Staatliche Zuschüsse fliessen sowohl in ambulante als auch stationäre Leistungen. So werden etwa Patienten in öffentlichen Krankenhäusern mit bis zu 80% der Kosten subventioniert – je nach Zimmerkategorie und Einkommen. Das individuelle Gesundheitssparkonto im Rahmen von Medisave dient in erster Linie dazu, die nicht durch steuerliche Mittel gedeckten Kosten vor allem im stationären Bereich zu decken. Daneben kann das Guthaben aber auch für besonders kostspielige ambulante Leistungen (wie etwa Chemotherapien) oder die Finanzierung zusätzlicher Krankenversicherungen (Hochrisikoversicherung «MediShield» oder private Versicherungen) verwendet werden.

Ohne staatliches Auffangnetz geht es nicht

Die besondere Herausforderung in diesem kapitalbasierten System liegt darin, dass im individuell angesparten Gesundheitskonto nur begrenzte Mittel zur Finanzierung der Krankheitskosten zur Verfügung stehen. Um ein zu rasches Abschmelzen des Sparkontos zu verhindern, wird in Singapur die Verwendung der Mittel explizit eingeschränkt. Medisave darf nur für bestimmte Leistungen (Positivliste) und pro Leistung in beschränkter Höhe in Anspruch genommen werden. Über dem maximalen Betrag liegende Kosten oder Leistungen, die nicht auf der Liste sind, müssen durch den Patienten selber bezahlt werden. Dennoch können die beiden Massnahmen nicht verhindern, dass bei besonders hohen oder regelmässig anfallenden Krankheitskosten (z.B. im Fall von aufwändigen Behandlungen oder chronischen Krankheiten) das im Medisave angesparte Kapital irgendwann aufgebraucht ist. In einem solchen Fall sind zuerst Angehörige verpflichtet, die Fehlbeträge aus ihrem Medisave-Konto zu begleichen. Erst wenn diese Mittel nicht mehr ausreichen, können Patienten staatliche Unterstützung im Sinne einer Fürsorge aus dem sogenannten «Medifund» erhalten.

Inzwischen kommt aber auch das Medisave Programm nicht mehr ohne staatliche Zuschüsse aus. Über 65-Jährige erhalten seit 2012 Beiträge aus einem Mehrwertsteuer-Rückvergütungsprogramm, das für Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen geschaffen wurde. Die Beiträge für Medisave stellen lediglich eine Komponente dieses Rück- bzw. Umverteilungsprogramms dar und werden anhand des Alters und des Wertes von Wohneigentum berechnet. Solche staatlichen Zuschüsse für ältere Personen können aber nicht verhindern, dass im Falle besonders hoher Gesundheitskosten das angesparte Guthaben irgendwann aufgebraucht ist. Um eine Belastung der Angehörigen oder eine Inanspruchnahme staatlicher Fürsorge zu vermeiden, kann daher eine zusätzliche Krankenversicherung abgeschlossen werden. Eine solche Hochrisikoversicherung wird in einer Basisversion ebenfalls vom Staat angeboten («MediShield»). Diese ist zwar freiwillig, doch werden in Singapur geborene Personen automatisch versichert – sie müssen sich daher explizit für einen Austritt entscheiden. Die Anreize dafür dürften in der Praxis beschränkt sein, da eine spätere Wiederaufnahme in die Versicherung abgelehnt oder eingeschränkt werden kann, wenn der Antragsteller bereits erkrankt ist – ähnlich wie in einem rein privat und freiwillig organisierten Versicherungsmodell. Konsequenterweise sind denn auch die meisten Bürger Singapurs bei MediShield zusatzversichert. Die Beiträge der Versicherten sind nach Alter abgestuft – ältere Personen zahlen mehr. In der höchsten Beitragsklasse (86 bis 90 Jahre) waren es 2013 umgerechnet etwa 850 Fr. Die Versicherung endet mit dem 90. Altersjahr.

Kostendämpfung durch Medisave

Der 1983 lancierte «National Health Plan» hat die Effizienz des Gesundheitswesens erhöht. Der primäre Vorteil von Medisave gegenüber dem vormals direkt durch den Staat finanzierten System liegt in der gezielten Adressierung kostentreibender Moral-Hazard-Probleme. Das Bewusstsein über die Begrenztheit der Mittel auf dem individuellen Gesundheitssparkonto motiviert die Menschen einerseits, ihrer Gesundheit Sorge zu tragen und risikoreiche Beschäftigungen auf ein Minimum zu reduzieren (Reduzierung ex-ante Moral Hazard). Anderseits werden sie es vermeiden, ärztliche Leistungen in unnötig hohem Ausmass in Anspruch zu nehmen (Reduzierung ex-post Moral Hazard). Die beiden Effekte werden durch die zusätzliche Hochrisikoversicherung nur wenig geschmälert. Schliesslich fallen bei der Inanspruchnahme von MediShield ebenfalls hohe Kostenbeteiligungen (Franchise und Selbstbehalt) an. 2011 beliefen sich die privaten Zahlungen (Kostenbeteiligungen und Out-of-Pocket) sowie die Beiträge durch private Versicherungen (exklusive MediShield) auf etwa 60% der Gesundheitsausgaben.

Die Kosten des Gesundheitswesens in Singapur sind – gemessen als prozentualer Anteil am Bruttoinlandprodukt – im Vergleich mit westlichen Ländern sehr tief (vgl. Abbildung). Gleichzeitig weisen grobe Indikatoren auf eine hohe Qualität der Gesundheitsversorgung hin. So hat Singapur eine ausserordentlich tiefe Kindersterblichkeit (tiefer als jene der Schweiz) und eine hohe Lebenserwartung (etwa ähnlich wie die Schweiz). Die tiefen Gesundheitskosten und der eher moderate Anstieg seit Mitte der 1990er Jahre dürften mindestens teilweise auf die Existenz des Medisave-Programms zurückzuführen sein. Allerdings kann die verminderte Moral-Hazard-Problematik auf Seiten der Versicherten alleine nicht den ganzen Kostenunterschied gegenüber der Schweiz und anderen westlichen Ländern erklären. Noch profitiert Singapurs Gesundheitswesen von einem verhältnismässig tiefen Altersquotienten (Verhältnis der Bevölkerung über 65 Jahren zur Bevölkerung im Alter zwischen 20 und 64 Jahren). Daneben hat Singapur eine ganze Reihe von Massnahmen implementiert, um die Angebotsseite so effizient wie möglich zu gestalten – etwa um die angebotsinduzierte Nachfrage so gering als möglich zu halten. Dies schlägt sich beispielsweise in einer knapp halb so hohen Ärztedichte im Vergleich zur Schweiz nieder.

Intergenerationelle Gerechtigkeit

Es stellt sich die Frage, ob ein Medical Savings Account auch die Effizienz des schweizerischen Gesundheitswesens erhöhen könnte. In der Schweiz ist der Anteil privater Gesundheitsausgaben im internationalen Vergleich bereits relativ hoch (Kostenbeteiligungen, Out-of-Pocket und Zahlungen durch Privatversicherungen summieren sich auf gegen 40%). Deshalb dürfte die zusätzliche Verminderung der Moral-Hazard-Probleme nur begrenzte zusätzliche Kosteneinsparungen bewirken. Eine noch höhere private Beteiligung – ähnlich wie in Singapur – würde vermutlich rasch an politische Grenzen stossen. Schliesslich erwägt auch Singapur, die private Kostenbeteiligung eher zu reduzieren, etwa durch höhere staatliche Beteiligungen oder einen Aus- und Umbau von MediShield.

Ein relevanter Vorteil entstünde hingegen im Hinblick auf die wachsende Umverteilung zwischen den Generationen aufgrund des demographischen Wandels. Im schweizerischen System mit Pro-Kopf-Prämien und solidarischer Krankenversicherung finanzieren die Gesunden die Kranken. Da bei den Älteren überdurchschnittlich viele Versicherungsleistungen anfallen, tragen die gesunden Jungen einen grösseren Teil der Gesamtkosten. Im Falle einer demographisch stabilen Bevölkerung ist das wenig problematisch, schliesslich werden auch die Jungen älter und können von dieser Umverteilung profitieren. Wie bei anderen umlagefinanzierten Sozialversicherungen gerät das System aber bei starken demographischen Veränderungen mit einer relativen Abnahme der Anzahl Jungen aus dem Gleichgewicht (Stichwort Babyboomer). Ein (teilweiser) Übergang in ein System mit Kapitaldeckung würde das Problem der intergenerationellen Umverteilung entschärfen. Avenir Suisse hat aus diesem Grund bereits im Buch «Ideen für die Schweiz» die Einführung eines Medical Savings Account vorgeschlagen.

Dieser Artikel entstand im Nachgang der von Avenir Suisse und dem Singapurer Think-Tank «Institute of Policy Studies (IPS)» in Rüschlikon organisierten Konferenz «Singapore and Switzerland: Learning from each other».

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