Landkarten können auch für Ökonomen erhellend sein. Unsere Karte zeigt den Wohlstand der Regionen Europas und der Schweizer Kantone anhand des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandprodukts (BIP) pro Kopf in Euro. Sie macht Selbstverständlichkeiten deutlich wie die, dass der Wohlstand geografisch sehr ungleich verteilt ist, mit einem deutlichen West-Ost-Gefälle. Weniger banal ist die Erkenntnis, dass die reichsten Regionen Europas (dunkelblau und graublau) weitgehend auf einem Band liegen, das sich von Skandinavien über Westdeutschland bis nach Norditalien zieht. Mit diesem Band mithalten können nur wenige Ausnahmen wie der Nordosten Schottlands (Erdöl) sowie einige städtische Regionen, darunter nicht zuletzt viele Hauptstädte. So kommt London auf 80 400 € (kaufkraftbereinigtes BIP/Kopf), Oslo, Bratislava, Paris, Stockholm, Prag und Wien weisen Werte zwischen gut 47 000 € und gut 41 000 € auf, und Helsinki, Madrid, Berlin und Budapest bewegen sich zwischen gut 38 000 € und fast 28 000 €.

Armes Berlin

Meist sind die Hauptstädte auch die reichste Region des Landes, besonders in Mittel- und Osteuropa, wo das Erbe der Donaumonarchie und der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft Wasserköpfe hat entstehen lassen und wo auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Hauptstädte gehätschelt wurden. Eine Ausnahme bildet – neben Italien – Deutschland. Weil der Westen über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung weiterhin klar wohlhabender ist als der Osten, kann auch Berlin (28 300 €) mit vielen Regionen Westdeutschlands wie Hamburg (50 700 €), München/Oberbayern (42 200 €) oder Bremen (39 700 €) nicht mithalten. Selbst die Bewohner von Bratislava (46 600 €) und Prag (42 900 €) sind wohlhabender als jene Berlins.

Wie oft bei Statistiken muss man den Befund cum grano salis nehmen. Deutliche Unterschiede werden durch die Tücken der Statistik nicht ins Gegenteil verkehrt, aber kleinere Differenzen darf man keinesfalls überinterpretieren. So ist die auf der «Nomenclature des unités territoriales statistiques» von Eurostat basierende Einteilung in Regionen nicht unproblematisch. Je nach Land handelt es sich nämlich um andere Einheiten, in Deutschland etwa um Regierungsbezirke, in Österreich um Bundesländer, in Frankreich und Italien um Regionen.

Diese unterschiedlichen Grössen führen zu ziemlich unterschiedlichen Durchschnittswerten. So errechnet sich für «Inner» London ein kaufkraftbereinigtes BIP pro Kopf von 80 400 €. In der City wird eine enorme Wertschöpfung erarbeitet, es leben aber relativ wenige Menschen dort. Fast spiegelbildlich dazu liegt in «Outer» London das BIP pro Kopf bei nur 22’500 €, weil dort viele Leute wohnen, die meist in der City arbeiten. Nimmt man beide zusammen, kommt man für «Greater» London auf ein BIP/Kopf von gut 45 000 €, das auf einer Fläche von 1600 km² erwirtschaftet wird. Da Paris/Île-de-France den gleichen Wert auf einer Fläche von rund 12 000 km² erreicht, würde die Region bei vergleichbarer Abgrenzung vermutlich deutlich besser abschneiden als «Greater» London.

Appenzell wie Paris

Besonders interessant ist die Karte mit Blick auf die Schweiz. Dass das Land als Ganzes den dunkelsten Blauton aufweist und zum reichsten Fünftel Europas zählt (die Farbabstufung beruht auf einer Einteilung in Quintile), ist kaum verwunderlich. Aber die Einfärbung beruht nicht auf einem Durchschnittswert, sondern auf kantonalen BIP-Daten, die mit dem kaufkraftbereinigten Wechselkurs umgerechnet wurden. Sie stammen aus dem Jahr 2011, für das die letzten definitiven Werte für Europa vorliegen. Neuere Zahlen würden aber – ein ähnliches BIP-Wachstum vorausgesetzt – am Ergebnis kaum etwas ändern, da sich der kaufkraftbereinigte Euro-Kurs trotz Freigabe des Frankenkurses nicht wesentlich geändert hat.

Das bedeutet, dass selbst die kleinsten, ländlich geprägten Kantone zur europäischen Spitze zählen. So spielt etwa Appenzell Innerrhoden (BIP/Kopf 44 900 €) in derselben Liga wie Paris (45 600 €), und selbst im Kanton mit dem niedrigsten BIP/Kopf, Uri (39 700 €), sind die Leute wohlhabender als in Helsinki, Madrid oder Berlin. Im europäischen Vergleich sind also alle Schweizer Kantone reich. Überall sonst sind dagegen ländliche Regionen so viel ärmer als die Ballungszentren, dass sie ein Quintil oder mehr tiefer liegen.

Ein Luxusproblem

Natürlich gibt es auch in der Schweiz erhebliche Unterschiede. Basel-Stadt und Zug übertreffen mit einem BIP pro Kopf von 128 700 € bzw. 116 200 € die reichste Region der EU, «Inner» London, um rund 60% bzw. fast 50%. Genf (79 000 €) und Zürich (74 200 €) liegen mit ihr fast gleichauf, und die «Schlusslichter» Ausserrhoden, Wallis und Uri bewegen sich um die 40 000 € / Kopf. Aber alle gehören sie zum reichsten Fünftel Europas. Und damit stellt sich in der Schweiz eine Frage, die sich nirgendwo sonst so stellt, nämlich ob der Gegensatz Stadt – Land nicht eine völlig andere Qualität annimmt, wenn er nicht, wie fast überall, zugleich einer zwischen «reich» und «arm» ist, sondern nur einer zwischen «sehr reich» und «reich».

Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25. 7. 2015.

Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.