Nicht nur Eltern und Lehrer, sondern auch andere Stimmen verlangen eine Anhebung der Maturitätsquote mit dem Hinweis auf die Desindustrialisierung der Schweiz und einem Fachkräftemangel in gewissen akademischen Berufsgruppen. Zwar gibt es in der Tat einen Fachkräftemangel in verschiedenen Berufszweigen, allerdings kann dieser über eine Erhöhung der Maturitätsquote alleine nicht behoben werden. Aufgrund der freien Studienwahl bleibt ungewiss, welche Fächer künftige Studierende belegen und ob Gymnasiastinnen und Gymnasiasten überhaupt einen Übertritt an die Universität anstreben.

Ausserdem ist die Schweizer Wirtschaft aus ihrem demografischen Korsett herausgewachsen. Aus dem eigenen Fähigkeitspool kann sie darum nicht für alle Branchen und Qualifikationsstufen genügend Fachkräfte zur Verfügung stellen. Dass mehr Arbeitsplätze als Arbeitnehmer vorhanden sind, zeigt sich durch die Nettozuwanderung in Kombination mit einer anhaltend tiefen Arbeitslosenquote deutlich. Die Schweizer Wirtschaft ist deshalb auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Trotzdem gilt es, den Engpässen in wissensintensiven Bereichen entgegenzuwirken.

Motivierte Lehrlinge gesucht

Die gymnasiale Maturitätsquote ist also im Gesamtzusammenhang zu betrachten. Der Berufsbildung würde bei einer Anhebung wertvoller Nachwuchs abgeworben. Bereits jetzt gibt es viele Unternehmen, die händeringend motivierte Lehrlinge suchen. Die Stabilität des Berufsbildungssystems muss gewahrt bleiben, zumal im internationalen Vergleich Länder mit einem dualen Bildungssystem (Schweiz, Deutschland, Österreich, Dänemark und Niederlande) eine relativ tiefe Jugendarbeitslosigkeit aufweisen.

Die Frage stellt sich demnach nicht, in welchem Mass, sondern wie selektiert wird. Nach dem Bildungsbericht 2014 der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung bringen die besten 25% der Lehrlinge verschiedenster Berufskategorien wie Elektroniker, Kaufmann, Augenoptiker oder Medizinlaborant die besseren Mathematikleistungen als der Median der «Gymischüler». Diese Lehrberufe sind zwingend auf exzellenten Nachwuchs angewiesen. Eine Auslese allein entlang der kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten legt die falschen Massstäbe. Die Neigungen der Schülerinnen und Schüler bezüglich der Gestaltung der Ausbildung sollten ebenfalls in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Nicht jedem intelligenten Jugendlichen liegt der im Gymnasium angewandte Unterricht.

Der Berufsbildung würde bei einer Anhebung der gymnasialen Maturitätsquote wertvoller Nachwuchs abgeworben. (ETH-Bibliothek, Bildarchiv)

Mehr Fremdsprachen und Allgemeinbildung

Mit der Einführung der Berufsmaturität auf eidgenössischer Ebene 1994 wurde eine attraktive Alternative zur gymnasialen Maturität geschaffen. Auch dieser Abschluss ermöglicht den Zugang zum tertiären Bildungssystem. Im Grunde geht es nicht darum, «wie viele» Jugendliche eines Jahrganges für das Gymnasium empfohlen werden, sondern, dass es «die richtigen» sind. Denn das Ziel des Aufnahmeverfahrens sollte sein, die geeignetsten Kandidatinnen und Kandidaten zu finden – entsprechend den Fähigkeiten und Neigungen, unabhängig von der Grösse des jeweiligen Jahrganges. Insofern sind möglichst konstante Aufnahmebedingungen zu schaffen, die unabhängig von den kurzfristigen Kapazitäten der Gymnasien funktionieren.

Die Berufsmaturität gilt es dabei für begabte Jugendliche noch attraktiver zu gestalten und auszuweiten, damit das Gymnasium gesunde Konkurrenz erhält. Am Ende berechtigen beide Wege zu einem Hochschulstudium, das gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Berufskarriere schafft. Im Zuge der sich rasch verändernden Anforderungen in der Berufswelt ist der allgemeinbildenden Komponente mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Berufslehre weist hierbei durchaus einigen Nachholbedarf auf, zum Beispiel im Bereich Fremdsprachen.

Lesen Sie dazu auch «Politikum Gymnasium: Zankapfel Maturitätsquote – Teil 1»