In den Werkhallen weiss man seit ein paar Quartalen: Die Zeiten werden rauer. Nicht nur die neuen US-Zölle, auch die Schwäche unseres Nachbarlands Deutschland belasten die Schweizer Wirtschaft. Die Orientierungslosigkeit ist gross. Der Reflex, gleich beherzt einzugreifen, wenn Probleme auftauchen, ist verständlich – aber riskant. Die Wirtschaft ist kein gepflegter Garten, in dem man jede Pflanze von Hand setzt. Sie ist ein wildes Biotop. Und bevor man in dieses Biotop eingreift, gilt es vier Prinzipien zu beachten.
1. Ein vollständiges Verständnis ist unmöglich
Vorweg die schlechte Nachricht für alle Freunde einfacher Lösungen: «Die Wirtschaft» ist enorm komplex. Der Ökonom Milton Friedman zeigte das einmal am Beispiel eines Bleistifts. Was banal wirkt, offenbart bei näherem Hinsehen die ganze Verflechtung: Holz aus Schweden, Grafit aus Brasilien, Lack aus Indien – und vielleicht noch eine Feder aus der Schweiz für die Lackmaschine. Tausende Menschen arbeiten an einem Bleistift mit, oft ohne zu wissen, was am Ende entsteht. Genau wie bei jedem sichtbaren Baum noch ein weitverzweigtes unsichtbares Netzwerk von Wurzeln, Pilzen und Mikroorganismen kommt. Ein vollständiges Verständnis bleibt unmöglich. Vor diesem Hintergrund verwundert auch das nächste Prinzip nur wenig.
2. Scheinbar gezielte Eingriffe haben oft unbeabsichtigte Folgen
Ein Beispiel dafür sind Mietpreisbremsen. Diese sollen Wohnungen erschwinglicher machen. Das klingt auf den ersten Blick plausibel. Doch internationale Erfahrungen wie auch Versuche in Basel und Genf zeigen: Wird damit der Handlungsspielraum von Vermietern stark eingeschränkt, sinkt die Zahl der Neubauten und die Bereitschaft, bestehende Wohnungen zu modernisieren. Für Mieter bedeutet das schliesslich lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen bei gleichzeitig schlechterer Wohnqualität. Gezielte Eingriffe scheinen kurzfristig einen positiven Effekt zu haben, kommen aber in der Regel langfristig mit diversen unerwarteten Nebeneffekten – dabei leiden oft gerade jene, die man eigentlich schützen wollte. Wie in einem Teich, in den man gut gemeint Futter für die Fische streut: Schnell kippt das Gleichgewicht, Algen wuchern, und die Fische leiden.
3. Unternehmen interagieren häufig symbiotisch
«Fressen oder gefressen werden» – wer kennt den Spruch aus dem Biologieunterricht nicht. Doch in der Natur gibt es ebenso viele Symbiosen. Clownfische etwa leben inmitten von Seeanemonen, gegen deren Gift sie immun sind. Der Fisch erhält Schutz vor Fressfeinden, die Anemone wird gesäubert und mit Sauerstoff versorgt. Beide profitieren. Auch bei der Wirtschaft denken viele zuerst an harte Konkurrenz: Marktanteile gewinnt man auf Kosten anderer. Doch auch hier gibt es unzählige Symbiosen. Im Bereich von Jungunternehmen spricht man seit langem vom «Startup-Ökosystem». Startups, Risikofonds, Anwaltskanzleien und andere spezialisierte Dienstleister: Sie alle interagieren miteinander, lernen dabei und verbessern sich. Das gilt auch für etablierte Industrien: So profitieren KMU und grosse Konzerne beide von Lieferanten-Abnehmer-Beziehungen. Die Wirtschaft schafft so nachhaltig Mehrwert – die Summe der Teile ist mehr als die Teile selbst.
4. Nur ein totes Ökosystem verändert sich nicht
Wer Jahr für Jahr am selben Ort draussen unterwegs ist, weiss: Die Natur wandelt sich permanent. Es ist das Zeichen eines gesunden Ökosystems. Gleiches gilt für die Wirtschaft. So ist die Textilindustrie weitgehend aus der Schweiz verschwunden, gleichzeitig sind neue Biotech-Cluster entstanden. Und oft entsteht aus Altem Neues. Ein Beispiel ist die Schweizer Pharmabranche, die sich aus der Chemieindustrie entwickelt hat. Auch Berufe verändern sich: 2’000 gab es hierzulande fast 7’000 Telefonisten, 2023 noch etwas über 1’000 – dafür hat sich die Zahl der Softwareentwickler auf rund 70’000 mehr als verdreifacht. Wandel ist also kein Symptom einer Krise, sondern Merkmal eines gesunden Ökosystems.
Und was heisst das für die Politik? Dass bei allen Massnahmen eine simple Regel gilt: Allgemein ist besser als spezifisch. Gerade die «ausgeklügelten» Eingriffe richten oft den grössten Schaden an. Und wer gezielt Branchen, Konzerne oder Startups bevorzugt oder benachteiligt, bringt bestehende Symbiosen aus dem Lot – und gefährdet damit den Mehrwert, den diese schaffen. Die Wirtschaft ist und bleibt ein hochkomplexes Ökosystem. Natürlich, in Krisen soll die Politik individuelle Härten durch ein soziales Netz abfedern. Doch wie in jedem Ökosystem gilt: Die langfristige Stabilität wird letztlich nur durch stete Anpassungen garantiert, die auf tausenden individuellen Entscheidungen basieren.
Dieser Beitrag ist in der «NZZ am Sonntag» vom 5. Oktober 2025 erschienen.