Budgetdebatten im Bundeshaus sind ein altbekanntes Ritual: Wie auf einem Marktplatz präsentieren die Parteien ihre Anliegen, und jede betont, dass ihre Prioritäten am wichtigsten seien. Die Landwirtschaftslobby fordert mehr Subventionen, die Bürgerlichen wollen eine schnellere Aufstockung der Mittel für die Armee, und die SP kämpft gegen Streichungen bei der Entwicklungshilfe. Alle haben gute Argumente, warum gerade ihre Schwerpunkte vom Rotstift verschont bleiben müssen.
Doch die Voten und Warnungen waren in dieser Wintersession deutlich schriller als in den vergangenen Jahren. Das ist wenig erstaunlich, denn der Bund steht unter Zugzwang: Um die Schuldenbremse einzuhalten, waren allein 2025 Kürzungen von 2 Milliarden Franken notwendig. Zwar wachsen die Bundesausgaben gegenüber dem Vorjahr voraussichtlich um 700 Millionen weiter, doch bei den einzelnen Budgetposten standen vergleichsweise beträchtliche Summen zur Diskussion.
Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass immer öfter vorgeschlagen wird, die geplanten Entlastungsmassnahmen in den kommenden Jahren zu umgehen. Die Linke und ein Teil der Mitte liebäugeln mit einer Lockerung der Schuldenbremse.
Die bestehende Regelung, so ihr Argument, schränke die Verschuldungsmöglichkeiten unnötig ein. Die Schuldenbremse stabilisiert den aktuellen Schuldenstand, wodurch die Verschuldungsquote bei einer wachsenden Wirtschaft automatisch sinkt. Sekundiert werden die Politikerinnen und Politiker dabei von namhaften Ökonomen: Aus einer Nachhaltigkeitsperspektive gesehen, würde eine stabile Schuldenquote genügen, argumentieren sie.
Der Eindruck täuscht
Rein technisch betrachtet, hat diese Position zwar ihre Berechtigung. Der Bund weist mit einer Bruttoschuldenquote von 16 Prozent im internationalen Vergleich einen beneidenswerten Wert auf. Selbst wenn man alle öffentlichen Schulden einbezieht, erreicht die Quote mit rund 30 Prozent einen vergleichsweise niedrigen Wert. Die Schweiz könnte sich somit höhere Schulden leisten, ohne dass dies unmittelbar zu ökonomischen Verwerfungen führte. Aber diese Sichtweise blendet zwei zentrale Aspekte aus.
Erstens unterschätzt sie die massiven impliziten Verpflichtungen in der Altersvorsorge. Die Dimension dieser versteckten Schulden ist beachtlich: Die AHV wird gemäss den jüngsten Berechnungen im Jahr 2033 ein jährliches Defizit von rund 4 Milliarden Franken aufweisen. Die kürzlich angenommene 13. AHV-Rente wird ab 2026 das strukturelle Defizit ohne entsprechende Finanzierung um weitere 4,2 Milliarden Franken pro Jahr vergrössern. Ökonomen der UBS haben für die AHV eine Finanzierungslücke von 177 Prozent des BIP errechnet – mehr als das Zehnfache der offiziellen Bundesschulden.
Zweitens, und dies ist der entscheidende Punkt: Eine Lockerung der Schuldenbremse würde einen Ausbau des Staates bedeuten. Da die Steuereinnahmen laut den Prognosen des Bundes in den kommenden Jahren weiterwachsen werden, führen neue Schulden automatisch zu einer Ausweitung der Staatsquote. Mit anderen Worten: Die Staatsausgaben würden einen noch grösseren Anteil der Wirtschaftsleistung beanspruchen.
Dies ist keine technische Frage, sondern eine grundlegende politische Weichenstellung. Diese Dimension wird in der gegenwärtigen Debatte jedoch systematisch ausgeblendet. Eine Lockerung der Schuldenbremse würde nicht nur zu einem grösseren Staat führen, sondern auch dazu, dass immer mehr Verantwortung von den Bürgern auf den Staat verlagert wird.

Die Schuldenbremse ist mehr als ein Kontrollinstrument – sie zwingt zur Prioritätensetzung und verhindert eine schleichende Staatsexpansion. (Adobe Stock)
Der Mythos der knappen Mittel
Die Fiskalquote – also der Anteil aller Bundeseinnahmen an der Wirtschaftsleistung – ist seit Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 bereits leicht gestiegen. Von jedem in der Schweiz erwirtschafteten Franken fliesst damit ein Zehntel in die Bundeskasse. Rechnet man alle staatlichen Zwangsabgaben ein – also auch die obligatorischen Beiträge an Kranken- und Pensionskassen –, erreicht die gesamte Fiskalquote heute gar 40 Prozent.
Beim Bund zeigt sich dies exemplarisch: Die Steuerlast der Haushalte wuchs zwischen 2010 und 2020 mit insgesamt 16,1 Prozent und damit fast doppelt so schnell wie die Reallöhne, die im gleichen Zeitraum nur um 8,4 Prozent zunahmen. Und auch die Einnahmen aus den Firmengewinnsteuern sind überproportional stark gewachsen. Dieser Trend dürfte sich mit der OECD-Steuerreform noch verstärken. Ab 2026 rechnet der Bund allein aus der Ergänzungssteuer mit zusätzlichen Einnahmen von jährlich 1,6 Milliarden Franken, wovon mindestens 400 Millionen ins Bundesbudget fliessen sollen.
Die These, die Schuldenbremse schränke die staatliche Handlungsfähigkeit übermässig ein, lässt sich empirisch somit widerlegen. Seit ihrer Einführung sind die Pro-Kopf-Ausgaben des Bundes real um einen Fünftel gestiegen. Die Bildungsausgaben legten real um fast 3 Prozent pro Jahr zu, die Sozialausgaben sogar um knapp 4 Prozent. Die Investitionsquote ist seit Jahren stabil. Die Corona-Pandemie hat zudem gezeigt, dass die Schuldenbremse in echten Krisensituationen genügend Flexibilität bietet: Der Bund konnte problemlos 30 Milliarden Franken Zusatzausgaben tätigen.
Wer eine Lockerung der Schuldenbremse fordert, sollte daher ehrlich sein: Es geht nicht um technische Details der Staatsfinanzierung, sondern um die politische Absicht, dem Staat einen immer grösseren Teil der Wirtschaftsleistung zuzugestehen – andernfalls müsste man zwingend im gleichen Atemzug auch Steuersenkungen fordern.
Die Schuldenbremse zwingt die Politik lediglich zu dem, was sie am wenigsten mag: klare Prioritäten zu setzen, statt allen alles zu versprechen. Wir sollten uns also nicht fragen, ob die Schweiz sich mehr Schulden leisten kann. Vielmehr dreht sich am Ende alles um die Frage: Brauchen wir einen noch grösseren Staat?
Mehr zum Thema erfahren Sie in der Analyse «Der Weg zu gesunden Bundesfinanzen – Steuern erhöhen, Ausgaben kürzen oder die Schuldenbremse lockern?»
Dieser Beitrag ist in der «NZZ» vom 19. Dezember 2024 erschienen.