Das Konstrukt des Überobligatoriums wird oft als ein Vorteil erachtet, der den Gutverdienenden vorbehalten ist. Doch der Schein trügt. Das Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) ist ein Rahmengesetz: Es legt die Mindestaltersgutschriften für jenen Teil des Lohns fest, der zwischen 22’680 Franken (der Eintrittsschwelle) und 90’720 Franken (dem maximal versicherten Lohn im Jahr 2025) liegt.
Den Arbeitgebern ist es jedoch freigestellt, gross zügigere Leistungen anzubieten. Sie können den Lohn ab dem ersten Franken versichern, die Beiträge erhöhen oder Jahreseinkommen bis zu 907’200 Franken versichern. Man bezeichnet dies als umhüllende Lösung, da diese zusätzlichen Leistungen die obligatorisch versicherten Lohnanteile «umhüllen».
Der Anstieg der umhüllenden Lösungen
Seit der BVG-Revision von 2004 ist der obligatorische Rahmen des BVG unverändert geblieben, während die umhüllenden Lösungen an Bedeutung gewonnen haben. Heute profitieren 91% der Pensionskassen und 82% der Versicherten davon. Bei den (halbautonomen) Pensionskassen ist der Anteil der überobligatorischen Guthaben in den letzten 10 Jahren von 57 auf 60% gestiegen (siehe Grafik). Das heisst, dass für jeden dem BVG-Obligatorium unterstehenden Franken zusätzlich eineinhalb Franken im Überobligatorium gespart wurde. Bei den Guthaben in den Vollversicherungen lässt sich eine vergleichbare Entwicklung beobachten, allerdings auf einem niedrigeren Niveau.
Diktat des Arbeitsmarkts
Dieser Zuwachs ist teilweise auf die erhöhte Nachfrage der Arbeitgeber nach umhüllenden Vorsorgeplänen zurückzuführen. Angesichts des Fachkräftemangels stellt das Angebot einer attraktiven 2. Säule einen Pluspunkt bei der Personalrekrutierung dar. Die Sammelstiftungen erhalten immer mehr Anfragen von Arbeitgebern, die wissen wollen, wie sie ihre überobligatorischen Leistungen bei Einstellungsgesprächen besser kommunizieren können. Dieses Interesse an Vorsorgeleistungen ist auch auf die Debatte rund um die Reformen «Altersvorsorge 2020» und «BVG21» zurückzuführen, die die Arbeitgeber und Arbeitnehmer für die Frage der Absicherung von Teilzeitpensen sensibilisiert hat.
Diktat des Aktuariats
Der Druck, das Überobligatorium auszubauen, geht aber auch von der Angebotsseite aus. Nur noch wenige Sammelstiftungen oder Vollversicherungen bieten neuen Versicherten noch BVG Minimalpläne an. Der Grund dafür ist ganz einfach: Im obligatorischen Teil muss bei der Umwandlung der Altersguthaben in eine Rente der Satz von 6,8% angewandt werden, der seit 2014 unverändert geblieben ist. Doch dieser Umwandlungssatz berücksichtigt weder die Entwicklung der Lebenserwartung der letzten 20 Jahre noch jene der nominalen Renditen auf den Kapitalmärkten. Dies führt zu einer aus versicherungsmathematischer Sicht zu hohen Rente. Die Differenz zwischen der versicherungsmathematisch korrekten Rente und der ausgezahlten Rente wird durch eine Senkung der den Aktiven gutgeschriebenen Renditen finanziert. Im Jahr 2019 beliefen sich die finanziellen Einbussen für die Aktiven auf über 7 Mrd. Franken.
Um diese Verluste einzudämmen, wandten 91% der Kassen im Jahr 2021 einen Gesamtumwandlungssatz (auch auf überobligatorischen Guthaben) von weniger als 6,8% an. Gemäss Swisscanto lag dieser Satz 2024 im Durchschnitt bei 5,3%. Seither ist die Querfinanzierung weitgehend verschwunden. Die Senkung des Umwandlungssatzes ist jedoch nur möglich, wenn die Kassen über überobligatorische Guthaben verfügen. Ausserdem müssen die Kassen nachweisen, dass sie auch Leistungen aus einem BVG-Minimalplan gewährleisten können.
Ein Problem gelöst, ein neues geschaffen
Trotz der grossen Beliebtheit des Überobligatoriums bieten immer noch 9% der Kassen BVG-Minimalpläne an. Nachdem die Reformen «Altersvorsorge 2020» und «BVG21» an der Urne verworfen worden waren, wurden viele Stimmen laut, die eine in diesen Reformen vorgesehene Massnahme wieder aufgreifen wollen: die Anpassung des Koordinationsabzugs. Eine Senkung oder Flexibilisierung des Koordinationsabzugs würde eine bessere Integration von Teilzeitbeschäftigten – mehrheitlich Frauen – in die 2. Säule erlauben.
Auch wenn diese Idee vermutlich populär ist, so darf sie keinesfalls von oben gesetzlich verordnet werden. Denn mit der Senkung des Koordinationsabzugs steigt auch der versicherte Lohnanteil. Dies führt zu höheren Vorsorgeguthaben, dem Ziel der Massnahme. Bei Renteneintritt muss dieses zusätzliche Sparguthaben jedoch zum zu hohen Satz von 6,8% des BVG-Obligatoriums umgewandelt werden. Mit der isolierten Senkung des Koordinationsabzugs würde die schädliche Quersubventionierung von Erwerbstätigen zu Rentnern wieder eingeführt. Dies würde nicht nur jene 12% der Kassen betreffen, die den Koordinationsabzug noch nach dem BVG-Minimum anwenden, sondern allen Pensionskassen schaden.
Um neue dem Kapitaldeckungsverfahren zuwiderlaufende Transfers von Jung nach Alt zu verhindern, müsste gleichzeitig auch der Umwandlungssatz im obligatorischen Bereich gesenkt werden. Die gescheiterten Volksabstimmungen (2010, 2017, 2024) haben jedoch gezeigt, dass die Senkung des Umwandlungssatzes politisch illusorisch ist.
Reform von unten
Auch wenn der Gesetzgeber sich vor Eingriffen hüten sollte, heisst das nicht, dass Teilzeitpensen nicht besser versichert werden sollten. Doch eine solche Anpassung muss von unten, dezentralisiert und freiwillig erfolgen. Unter dem Druck des Fachkräftemangels und der versicherungsmathematischen Anforderungen werden schliesslich auch die letzten Arbeitgeber, die sich noch gegen einen niedrigeren Koordinationsabzug sträuben, zu ihren Konkurrenten aufschliessen müssen.
Auch dann steigt mit der Anpassung des Koordinationsabzugs der versicherte Lohnanteil. Aber der zusätzliche freiwillige Sparbetrag unterliegt nicht dem «falschen» Umwandlungssatz von 6,8%, sondern dem von der Kasse angewandten umhüllenden Durchschnittssatz. Dieser tiefere Umwandlungssatz könnte die ungerechtfertigten Transfers zwischen den Generationen reduzieren oder gar ganz aus der Welt schaffen.
Eine Reform von unten würde schrittweise und in einem für die betroffenen Unternehmen verkraftbaren Tempo erfolgen, insbesondere in Branchen, die einen hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigten haben oder sehr niedrige Löhne zahlen. Vor allem aber wird mit diesem freiwilligen Ansatz eine Wiedereinführung der Querfinanzierung verhindert, die erwerbstätige Frauen und Männer Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigte – benachteiligt.
Dieser Beitrag erschien in der Januar-Ausgabe 2025 der Zeitschrift «Schweizer Personalvorsorge».