«Handelszeitung»: Herr Cosandey, ist die zweite Säule ein Erfolgsmodell?
Jérôme Cosandey: Ja, absolut. Denn dank dezentraler Organisation konnten sich die von den Sozialpartnern paritätisch geführten PK laufend an die neuen Gegebenheiten im Arbeitsmarkt, im Finanzmarkt und in der Zivilgesellschaft anpassen, während die Politik in Grabenkämpfen verharrt. Als Resultat – trotz Zunahme der Lebenserwartung – konnten die Renten gehalten, die systemwidrigen Subventionen abgebaut und die Situation von Teilzeitmitarbeitenden, mehrheitlich Frauen, verbessert werden.
Dann sollte die Vorlage zur beruflichen Vorsorge in der Abstimmung vom 22. September die Hürde problemlos nehmen.
Da bin ich skeptisch, denn die berufliche Vorsorge ist komplex, weil sie je nach Betrieb und Pensionskasse individuell ausgestaltet ist. Auch die Reform ist sehr komplex, weil je nach Laufbahn, Einkommen und Altersguthaben die Konsequenzen unterschiedlich sind. Zudem fehlt eine breite politische Allianz für die Reform.
Die Vorlage passt nicht ins klassische Links-rechts-Schema. Neben der Linken und den Gewerkschaften lehnen auch einzelne Branchen- und Arbeitgeberverbände die Vorlage ab. Das weckt Zweifel an der Vorlage.
Genau. Politisch geht es darum, die Oberhand in der Sozialpolitik zu haben. Links/Grün ist aus Prinzip dagegen, und die Bürgerlichen sowie Experten sind gespalten, weil die Reform Makel hat.
Im linken und gewerkschaftlichen Umfeld wird behauptet, dass die Renten sinken, obwohl man immer mehr Prämien bezahlen muss. Stimmt das?
Der Rückgang der Renten ist, wenn man auch die Kapitalbezüge einbezieht, sehr gering; und deutlich tiefer, als wenn man nur die ausbezahlten Renten betrachtet. Zudem werden die Renten aufgrund der steigenden Lebenserwartung über eine längere Dauer ausbezahlt.
Immerhin: Auch die neuste Analyse von Avenir Suisse zeigt, dass die durchschnittlichen BVG-Leistungen seit 2015 gesunken sind.
Das stimmt nicht ganz. Für Frauen nahmen sie zu: unter Berücksichtigung der Kapitalbezüge von 2015 bis 2022 um 2 bis 6 Prozent (vgl. Grafik). Das ist zum Teil aufgrund der erhöhten Arbeitsmarktpartizipation der Fall. Bei Männern sind sie, je nach Berechnungsmethode, in der Tat um 4 bis 9 Prozent gesunken. Ein Teil davon ist auf die Reduktion der systemwidrigen Umverteilungen zurückzuführen. Früher waren die Renten für Neurentner von den Aktiven «subventioniert», sprich zu hoch. Heute sind diese Quersubventionen weitgehend reduziert. Die Generationengerechtigkeit wird eher eingehalten.
Die Leistungsfähigkeit des Systems wird primär an der Entwicklung der Umwandlungssätze gemessen. Ergibt das Sinn?
Nein. Die Leute erhalten am Schluss des Monats schliesslich nicht Prozente, sondern Franken aus ihrer PK ausbezahlt. Das heisst, man muss die Entwicklung der effektiven ausbezahlten Renten anschauen, also das Ergebnis des Kapitals multipliziert mit dem Umwandlungssatz.
Die Senkung der Umwandlungssätze werden von Neurentnern vermutlich als ungerecht empfunden …
Wer länger in die Ferien geht, muss entweder weniger pro Tag ausgeben oder vor den Ferien mehr ansparen. Genauso ist es auch mit dem Kapitaldeckungsverfahren. Wieso soll das als unfair empfunden werden? Man kann hier keine Leistungen versprechen, die nicht finanziert sind, wie es in der AHV der Fall ist.
Die Materie ist äusserst komplex. Um sich ein realistisches Bild zu verschaffen, hat Avenir Suisse eine «äquivalente Rente» berechnet. Was für eine Überlegung steht dahinter?
Heute nimmt die Mehrheit der Neurentner das gesamte Altersguthaben oder einen Teil davon in Kapitalform, Tendenz steigend. Zudem sind die Beträge der Kapitalbezüge immer grösser. Diese Kapitalbezüge muss man bei der Leistungsbeurteilung berücksichtigen. Um die Leistungen der zweiten Säule zu analysieren, haben wir deshalb den hypothetischen Fall gerechnet, bei dem alle Neurentner das ganze Altersguthaben in Rentenform genommen hätten. Wir wandeln dafür das bezogene Kapital in eine Lebensrente um. Die Summe davon, also die effektive plus die hypothetische Rente, ergibt die «äquivalente Rente».
Wie könnte die steigende Lebenserwartung im System abgebildet werden?
Die wird bereits indirekt über den Umwandlungssatz berücksichtigt.
Ein wesentlicher Faktor für die Abstimmung wird das Votum der Frauen sein.
Hierbei ist zu bemerken, dass die Reform Teilzeitangestellte – viele davon Frauen – besserstellt. Allerdings bringt die Reform nur für wenige Versicherte etwas Neues. Denn 86 Prozent der Kassen haben den Koordinationsabzug bereits flexibilisiert oder ganz abgeschafft. Die Zunahme der Leistungen der Frauen, also Rente und Kapital, könnte eine Konsequenz dieser Modernisierung sein; aber auch das Ergebnis einer erhöhten Arbeitsmarktpartizipation.
Warum gibt es bei den Renten überhaupt Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Nun, die Leistungen der zweiten Säule mit Rente und Kapital sind das Spiegelbild unserer Erwerbsbiografien. Wer mehr verdient, höhere Beschäftigungsgrade und weniger Erwerbsunterbrüche etwa durch Familie oder Ausbildung hat, hat bei der Pensionierung mehr Kapital in der zweiten Säule.
Und doch gibt es Rentenunterschiede zwischen Mann und Frau …
… die sich durch Unterschiede in den Arbeitspensen erklären lassen sowie durch den früheren Austritt der Frauen aus dem Berufsleben mit 64 statt mit 65 Jahren.
Die Leistungsfähigkeit der zweiten Säule hängt nicht zuletzt von der Performance der Pensionskassenanlagen auf den Finanzmärkten ab. Wie gut können die Kassen der steigenden Lebenserwartung und den Turbulenzen am Finanzmarkt trotzen?
Dieser «dritte Beitragszahler» – der Finanzmarkt – spielt in der Tat eine wichtige Rolle, denn bis ein Drittel des Altersguthabens wird mit Zins und Zinseszinsen geäufnet. Deshalb sind die unterschiedlichen Anlagestrategien der PK wichtig. Allerdings ist der Spielraum für die Kassen eingeschränkt, weil die Leistungen immer gewährt werden müssen, um eine Unterdeckung zu vermeiden. Deshalb werden Anlagestrategien vorsichtig gewählt. Die Konsequenz: Sie werfen im Schnitt weniger Rendite ab.
Die Kompensation der Lebenserwartung wird damit nicht beliebig möglich.
Eine kleine Flexibilisierung der Rente im Sinne einer 13. BV-Rente je nach Anlageergebnis könnte mehr Freiraum geben, um zum Beispiel mehr in Aktien zu investieren und damit mehr Erträge zu generieren.
Inwieweit soll der Staat Lücken im BVG stopfen?
Der Staat muss die Mindestanforderungen definieren, aber den Führungsorganen auch die nötigen Freiräume punkto Anlagestrategie und Plangestaltung geben, um die Leistungen zu erreichen. Er sollte jedoch nicht für «Fehlentscheide» einspringen. Auch müssen die Versicherten wissen, welche Konsequenzen persönliche Entscheide wie die Reduktion des Arbeitspensums oder der Rücktritt aus dem Erwerbsleben für die Altersvorsorge haben. Und dementsprechend handeln. Für das schicksalsbedingte Ausscheiden aus dem Erwerbsleben durch Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit oder für die Armut im Alter gibt es andere Sozialversicherungen.
Dieses Interview wurde von Werner Rüedi geführt und ist am 15.08.2024 in der «Handelszeitung» erschienen. Weiterführende Informationen zum Thema finden Sie in unserer Studie «Die unterschätzten Leistungen der zweiten Säule».