AZ: Lukas Rühli, Sie haben für Avenir Suisse das vierte Kantonsmonitoring zum Thema «Gemeindeautonomie» verfasst. Was genau haben Sie untersucht?

Lukas Rühli: Wir haben zunächst den Istzustand analysiert: Wie autonom sind die Gemeinden in den einzelnen Kantonen tatsächlich? Welche Prozesse schränken diese Autonomie ein? Sodann haben wir die Rolle der Kantone untersucht: Was tun sie für die Gemeindeautonomie? Wie initialisieren oder unterstützen sie Modelle, welche weiterhin eine bürgernahe Leistungserbringung ermöglichen?

Der Aargau findet sich in Ihrer Rangliste in der Spitzengruppe.

Tatsächlich, der Aargau belegt im Gesamtranking Platz 2. In einigen Bereichen ist er besonders gut.

In welchen?

In der Finanzkontrolle und Transparenz sowie bei der interkommunalen Zusammenarbeit, wo vor allem die ausführlichen Unterlagen des Kantons für die Gemeinden überzeugen. Letztes Jahr hat der Kanton zudem ein Initiativ- und Referendumsrecht in Gemeindeverbänden eingeführt. Auch bei der Fusionsförderung schneidet der Kanton gut ab. Etwas quer in der Landschaft steht allerdings das Finanzausgleichssystem: Die Abschaffung des sogenannten Grundbedarfs ist 2009 am Volksnein gescheitert. Dieser wird deshalb weiterhin jeder Gemeinde, unabhängig von ihrer Einwohnerzahl, in gleicher Höhe angerechnet und bevorteilt damit kleine Gemeinden deutlich.

Kommen wir zu unserem Thema. Fusionen zwischen kleineren Gemeinden sind im Aargau geplant oder vollzogen. Wo es hingegen, trotz klarer regierungsrätlicher Absicht harzt, das ist die Bildung zweier starker Zentren durch Fusion der Kernstädte Aarau und Baden mit ihren Agglomerationsgemeinden. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Neben emotionellen hat das vor allem finanzielle Gründe. Zwischen 1890 und 1940, als Zentren wie Zürich oder Winterthur entstanden, waren die Kernstädte reich und pulsierende Wachstumspole. Es war für die meist weniger wohlhabenden Aussengemeinden attraktiv, sich dem Zentrum anzuschliessen. Heute ist es eher umgekehrt: Die Städte versehen zwar nach wie vor viele Zentrumsfunktionen, aber sie sind oft nicht auf Rosen gebettet, reiche Steuerzahler sind in den vergangenen Jahrzehnten aufs Land gezogen, verbanden Landluft mit Zentrumsnähe, es entstanden «Speckgürtel» rund ums Zentrum – und oft eine Steuerfuss-Differenz zur Stadt, die heute als Fusionshemmnis wirkt.

Unsere These lautet: Mittelgrosse Städte, entstanden aus Kernstädten plus Vororten, geben einem Kanton, der wegen seiner kleinräumigen Struktur Untergewicht aufweist, mehr Kraft. Einverstanden?

Im Grundsatz ja. Grösse verbessert die Voraussetzungen für Investitionsprojekte in überregionalen Dimensionen. Und geeinte Regionalzentren haben klar bessere Möglichkeiten zum koordinierten Vorgehen in Siedlungs- und Raumplanung. Allerdings würde ich vor idealisierten Hoffnungen warnen. Grösse ist nicht automatisch besser, die Menschen müssen sie mittragen und die Politik muss sie aktiv gestalten. Grösse kann auch zu Trägheit führen und den Wettbewerb vernichten.

Sie sprechen die Menschen, die Bevölkerung an. Warum wehren sich Menschen gegen solche Zusammenschlüsse?

Die emotionale Bindung zur Gemeinde ist in der Schweiz besonders gross, was in vielen Bereichen durchaus Vorteile hat. Ohne augenscheinliche Not entscheiden sich die Bürger deshalb meist für Beibehaltung der eigenen Gemeinde. Gerade das oft geäusserte Argument der «verlorenen Identität» sticht für mich allerdings nicht: Entscheidend für die Identität, für das «Sich-zu-Hause-Fühlen», für den sozialen Zusammenhalt ist die nähere Umgebung. Wenn die Infrastruktur stimmt, ist es völlig unerheblich, ob das nun in einer eigenen Gemeinde stattfindet oder in einem Stadtquartier. Meine Heimat ist Höngg oder Wiedikon, nicht Zürich.

Und die Politik – warum wehrt sie sich gegen Zusammenschlüsse?

Auch hier spielen zum Teil sicher menschliche Gründe mit: Ein Gemeinderat, eine Gemeindeverwaltung, die das heisse Eisen aufgreift, droht sich selber abzuschaffen. Dies ist ja ein Hauptargument für Fusionen: dass es nicht mehr alle Funktionen mehrfach braucht. Im Gegenzug kann man sagen: Für Gemeindebehörden und Verwaltungen ist die Mitgestaltung eines solchen Projektes höchst anforderungsreich und interessant, bereits in der Phase der Planung und der Realisierung.

Sie fordern in Ihrer Studie die Aufrechterhaltung der Gemeindeautonomie, damit der Staat den Menschen nicht als anonymer Moloch begegnet, sondern seine Bürgernähe bewahrt. Unserer Forderung nach starken Zentren durch Eingemeindungen können Sie indessen einiges abgewinnen. Damit müssten aber bisherige Vororte ihre Autonomie aufgeben. Ein Widerspruch?

Nein. Zunächst: Die vollständige Autonomie der Gemeinden, verstanden als Souveränität – niemand darf mir dreinreden –, ist ohnehin nicht machbar und auch nicht wünschbar. Die Gemeinden sind immer eingebettet in einem Grösseren, der Kanton kann sein Hoheitsgebiet selber gestalten und seinen Gemeinden Anweisungen geben.

Die Gemeindeautonomie als grosse Illusion?

Nein! Man muss sie nur richtig verstehen. Nicht als «Niemand darf mir dreinreden» – sondern: Wir müssen dafür sorgen, dass die Einheiten einen möglichst grossen Teil der Aufgaben selbstständig, in der Nähe der Bürgerinnen und Bürger, lösen können. Nach dieser Definition merken wir plötzlich: Das Beharren auf der kleineren Einheit kann Autonomie beeinträchtigen, das Zusammengehen in einer grösseren Einheit kann sie begünstigen. Kleine schwache Gemeinden werden abhängig, grosse starke Gemeinden lösen die zugeteilten Aufgaben souverän. Fusion macht stark, nicht schwach!

Was ist besser: wenn Gemeinden intensiv zusammenarbeiten oder wenn sie fusionieren?

Das ist für mich kein Entweder-oder, eher eine Abfolge: Zusammenarbeit ist immer gut und wird vielerorts intensiv genutzt und gelebt. Doch Zusammenarbeit stösst an Grenzen. Wenn die Möglichkeiten der Kooperation ausgereizt sind, ist es sinnvoll, über Fusion nachzudenken. Aber: Fusion funktioniert nicht über Zwang. Der Kanton soll seine Gemeinden, die Zentrumsgemeinde soll ihre Vororte nicht zwingen. Es funktioniert nur, wenn alle das Gleiche wollen und am gleichen Strick ziehen.

Dieses Interview erschien in der «Aargauer Zeitung» vom 19. April 2012.