AUF DIE FRAGE, was es heute bedeutet, liberal zu sein, muss ich etwas vorwegnehmen: Ich gehöre zu jenen, die liberale Prinzipien für ziemlich zeitlos und universal gültig halten. Individuelle Freiheit, Selbstverantwortung und Wettbewerb sind zutiefst menschlich und keine blosse Erfindung des Westens. Man findet sie auch bei chinesischen, indischen und arabischen Denkern.

Diesen liberalen Prinzipien weht ein rauer Wind entgegen. (…) Als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise spriessen die Zweifel an der freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung wie Pilze aus dem Boden. Wir leben tatsächlich nicht im Paradies. Während ein Teil der Menschen in Wohlstand lebt, ist ein anderer bitterer Armut ausgesetzt. Und während im Zuge der Krise viele Menschen ihre Arbeit verloren, mussten private Finanzinstitute mit Steuergeldern gerettet werden, um den Systemkollaps zu verhindern. Unter diesen Vorzeichen werden die Rufe nach einem Staat, der die Härten der freien Marktwirtschaft abfedern und Krisen verhindern soll, lauter. Dabei gibt es viele Gründe, die gegen solche Interventionen und für eine liberale Gesellschaft sprechen, Gründe, die leider in Vergessenheit geraten sind.

WARUM FREIHEIT? Was macht eine freiheitliche Gesellschaft erstrebenswert? Vielleicht am offenkundigsten ist, erstens, dass nur sie es den Individuen erlaubt, nach ihrer Facon selig zu werden, sich möglichst frei zu entfalten. (…)

Zweitens haben wir unseren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt der letzten Jahrhunderte der Freiheit und der Marktwirtschaft zu verdanken. Nur sie erlauben Experimente, Versuch und Irrtum, die Suche nach Neuem. Freiheit ist, drittens, ein Wohlstandsgenerator. Heute leben zehnmal so viel Menschen auf der Erde wie vor dreihundert Jahren, der Wohlstand in Mitteleuropa ist etwa 25-mal und die Lebenserwartung bei der Geburt dreimal so hoch wie damals. Diesen Erfolg verdanken wir weder dem Sozialismus noch irgendwelchen Dritten Wegen. Viertens ist Freiheit sozial. Ob etwas verteilt werden kann, hängt davon ab, ob es etwas zu verteilen gibt. Die Marktwirtschaft sorgt für möglichst viele Brote, statt das vorhandene Brot in viele «gerechte» Scheiben aufzuschneiden.

UNBEQUEME FREIHEIT. Wenn Freiheit neben ihrem Wert an sich so viele Vorteile aufweist, warum ist dann der Boden für die Freiheit so steinig? Wieso machen sich Staatsgläubigkeit und Paternalismus breit? Die Ursachen liegen weniger in der Kommunikation der liberalen Idee und im politischen Personal der Parteien – obwohl das auch -, sondern hauptsächlich bei einigen Charakteristika dieser Idee. So werden Freiheit und Selbstverantwortung oft als beschwerlich empfunden. «Die Qual der Wahl», «sich entscheiden müssen» – unsere Sprache verrät, dass das, was der Liberalismus als Lust versteht, von vielen als Last empfunden wird. Viele Menschen streben danach, dass andere Personen oder der Staat eine elterliche Rolle übernehmen und ihnen Entscheide abnehmen.

Dem Verständnis und der Akzeptanz abträglich ist auch die Langfristigkeit liberalen Denkens. Es ist mehr auf Risiko und Innovation als auf Erhalt des Erreichten ausgerichtet. Aus dieser Langfristigkeit heraus akzeptiert der Liberalismus starke Schwankungen um einen Wachstumspfad herum ebenso wie schmerzhafte Reformen.

Damit verwandt ist die Überzeugung, dass der Wettbewerb eine segensreiche Einrichtung ist. Viele Freiheitsgegner sehen ihn dagegen als gnadenlosen Kampf aller gegen alle. Wettbewerb ist aber höchstens in fehlgeleiteten, seltenen Situationen ein Nullsummenspiel. Normalerweise spornt Wettbewerb zu besseren Leistungen an. Am Schluss profitieren – wie beim Wettlauf – alle, weil alle besser, leistungskräftiger und kreativer werden.

Zum Nachteil gereicht der freiheitlichen Ordnung ferner, dass sie bloss Regeln propagiert, keine Ergebnisse. Somit lässt sich nicht voraussagen, wozu diese Regeln in Sachen Wohlstand und Verteilung führen. Nur das kann man sagen: Freiheit ist nur um den Preis einer gewissen Ungleichheit und Angleichung der Einkommen, ist nur um den Preis von mehr Unfreiheit zu haben.

Wegen seiner Ergebnisoffenheit kann der Liberalismus auch den Wunsch nach eindeutigen, einfachen Lösungen für gesellschaftliche Probleme nicht erfüllen. Liberale wissen, dass es nicht möglich ist, Gesellschaft und Wirtschaft in eine vordefinierte Richtung zu steuern. Menschliches Wissen ist begrenzt, und die Funktionszusammenhänge von Wirtschaft
und Gesellschaft sind so kompliziert, dass nur ihr «Konstrukteur» sie verstehen könnte. Ihn gibt es jedoch unter den Menschen genauso wenig wie den alles begreifenden Intellekt. Wer das nicht einsieht, masst sich Wissen an, und richtet in seinem Machbarkeitswahn mehr Schaden an, als er Gutes tun kann.

WELCHE ANTWORTEN geben nun liberale Prinzipien auf die Probleme von heute? Und wo ist der Liberalismus besonders gefordert, weil seine Lösungen weder einfach noch populär sind?

Ein zentrales Problem ist die Überschuldung – von Staaten wie von Sozialwerken. Das Leben auf Pump ist in den letzten Jahrzehnten fast überall zur Normalität geworden: Es war nicht erst die Wirtschaftskrise, die die Schulden explodieren liess. Sie verschlimmerte, zumal in zahlreichen EU-Staaten, lediglich eine schon zuvor nicht nachhaltige Situation. (…) In der Schweiz stellen vor allem die impliziten Schulden der Sozialwerke eine Herausforderung dar. Lebenserwartung und Gesundheitskosten steigen. Gleichzeitig finanzieren immer weniger Arbeitnehmer die Pensionen der Rentner. Deswegen brauchen wir längere Lebensarbeitszeiten und ein flexibles Rentenalter. Sonst werden die Schulden allein der Sozialwerke bis 2060 auf über 60 Prozent des BIP steigen.

Vordringlich ist ferner die Lösung der «Too big to fail»-Problematik. So lange einzelne Finanzinstitute für die Stabilität einer gesamten Volkswirtschaft relevant bleiben, sieht sich der Staat im Krisenfall gezwungen, ihnen zur Hilfe zu eilen. Gerade in der Schweiz besteht diese Gefahr in Anbetracht des Umfangs der Bilanzen der beiden Grossbanken im Verhältnis zur Grösse der Volkswirtschaft. (…)

Weiter stehen Liberale vor der Herausforderung, dass sich in Krisenzeiten viele nach festen Werten sehnen, eine Sehnsucht, die der Liberalismus nur begrenzt erfüllen kann, weil er das Ringen um den moralischen Kompass jedem Einzelnen überlässt. Der liberale Grundsatz, dass keine Werte vorgeschrieben werden dürfen, impliziert aber nicht, dass liberale Denker sich in dieser Diskussion der Stimme enthalten sollen. Eine Rückbesinnung auf Anstand, Mitmenschlichkeit, Bescheidenheit, Vertragstreue und Mass – gerade in den Eliten – ist unabdingbar, soll das freiheitliche System seine Legitimation wieder zurückgewinnen. Das ist auch deswegen wichtig, weil zurzeit der Wunsch nach sogenannter sozialer Gerechtigkeit Boden gewinnt. Man kann die daraus wachsende Forderung nach noch mehr Umverteilung nur abwehren, indem einerseits der Staat ein soziales Sicherheitsnetz spannt, das das Abgleiten in die Armut verhindert und indem anderseits die Reichen von sich aus Mass halten. Geschieht das nicht, wird es zu einer zu starken Umverteilung kommen Solche Angleichung trägt jedoch der Dynamik der Menschen nicht Rechnung: Wer sich mehr anstrengt als andere, etwas neu und anders anpackt und damit Erfolg hat, stellt sich besser. Wandel und Fortschritt führen somit immer zu Ungleichheit. (…)

Zentral für das Funktionieren einer Wettbewerbswirtschaft und doch oft missachtet ist der Grundsatz der Kostenwahrheit. Wenn sich Verbraucher nicht an den echten Kosten orientieren, werden Güter im Übermass konsumiert. Die Kosten dafür berappt die Allgemeinheit durch höhere Abgaben. Gleichzeitig werden andere Güter relativ teurer – das ist ineffizient. Augenfällig ist die Problematik im Verkehr. Im öffentlichen Verkehr beträgt der von den Benutzern getragene Kostenanteil nur 38 Prozent. Resultate dieser künstlich verbilligten Mobilität sind Zersiedelung, Belastungen der Umwelt, Herumgondeln als Freizeitbeschäftigung. Beim privaten Verkehr berappen die Nutzer wenigstens die betriebswirtschaftlichen Kosten, allerdings nicht die externen Kosten, deren Höhe jedoch umstritten ist. Durch mangelnde Kostenwahrheit kommt den Menschen das Bewusstsein der effektiven Kosten vieler Leistungen abhanden. Wer weiss etwa schon, dass die Patienten in der Schweiz einen höheren Beitrag zur Finanzierung des Gesundheitssystems leisten als die Bahn- und Busbenutzer zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs.

Schliesslich besteht derzeit ein Problem in der ausgeprägten Risikoaversion der heutigen Gesellschaft.  Die Unvorhersehbarkeit der Konsequenzen neuer Technologien, zum Beispiel der Nano- oder der Gentechnologie,wird oft als Todschlagargument gegen deren Erforschung und Verwendung missbraucht. Obwohl das bewusste Eingehen von Risiken der Schlüssel für Wissen und Wohlstand ist, wird Risikovermeidung zur moralischen Tugend erhoben. In der
Energiepolitik kommt diese Kultur der «Risikovermeidung um jeden Preis» besonders zum Ausdruck. (…)

Um die Herausforderungen der Zukunft meistern zu können, sind wir auf Innovation, Wandel und Veränderung angewiesen. Ohne Risikobereitschaft werden Stagnation und Niedergang unsere Begleiter sein.

HERAUSFORDERUNGEN ALLENTHALBEN, durchaus valable liberale Antworten und gleichwohl wenig Sukkurs für die liberale Sache – diese Konstellation sollte nicht zur Resignation führen. Die Idee der Freiheit braucht keine Verjüngungskur und lässt sich nicht grundsätzlich verbessern; sie ist eine gute Idee. Sie trägt dem «Normalmenschen» am besten Rechnung. Dieser wird so akzeptiert, wie er ist, «ni ange, ni bête», wie es bei Blaise Pascal heisst. Wenn man sich wirklich der Freiheit verpflichtet, wird es mit der Zeit allen besser gehen – wenn auch der Weg dorthin eine holprige Strasse ist. Vielleicht gewinnt die Wertschätzung der Freiheit so wieder die Oberhand:

• Wenn erkannt wird, dass ohne Anstrengungen der vermeintlich sichere Besitzstand gefährdet ist;

• wenn wesentliche Aspekte der Freiheit wie Haftung und Selbstverantwortung wieder gelebt werden;

• und wenn der Wert der Freiheit über das rein Ökonomische hinaus sichtbar wird. (…)

Dieser Artikel erschien am 9. Juni 2012 in der «Aargauer Zeitung», sowie in der
«Basellanschaftliche Zeitung» und «Solothurner Zeitung».