Drei Tage nach den Abstimmungen zu Staatsverträgen, Ärztenetzwerken und Bausparen sowie diversen kantonalen Urnengängen reibt man sich noch immer die Augen. Was ist bloss in die Stimmbürger gefahren? Sie verzichten auf mehr direktdemokratische Mitsprache. Sie schmettern (in Zürich und Luzern) liberalere Ladenöffnungszeiten ab. Sie demonstrieren (im Kanton Zürich) mit ihrem Ja zum Erhalt von Kulturland Ökokonservatismus. Geht ein neuer Linksruck durchs Land, das eben noch, stramm rechts, die Minarett- und die Ausschaffungs-Initiative angenommen hat? Der Soziologe Kurt Imhof, Uni Zürich, und Gerhard Schwarz, Direktor der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse, nehmen Stellung zu sechs Thesen der Basler Zeitung.

Man möchte wieder mehr Staat

Im Kanton Zürich kommen die Bürgerlichen nicht mehr aus dem Staunen heraus. Die FDP spricht von einer «antiliberalen Tendenz», die SVP von «Konservatismus » im negativen Sinne. Was ist passiert? Die Stimmenden haben Ja gesagt zur Einführung ökologischer Verkehrs abgaben, Ja zu einer Initiative «für den Erhalt der landwirtschaftlichen und ökologisch wertvollen Flächen» und Nein zu längeren Ladenöffnungszeiten. Auch im Kanton Luzern hat sich das Volk gegen ein liberaleres Ladenöffnungsgesetz gesträubt.

Kurt Imhof: Der Schweizer will nicht mehr Staat, sondern weniger Markt. Die Ablehnung der Zürcher Initiative «Der Kunde ist König» zu den Ladenöffnungszeiten zeigt das deutlich. In der Demokratie gilt halt auch: Der Bürger ist mindestens so sehr König wie der Kunde. Die Fixierung auf den Marktfetisch, wie sie Ende der Neunzigerjahre ausgeprägt war, ist am Schwinden. Der Markt kann vieles, aber nicht alles diese Erkenntnis ist bei vielen durchgedrungen, und: Man hat die Nase voll von der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Beides, die Einsicht in die Grenzen der Marktregulation und die Kommerzialisierungsbedenken, lässt den Bürger bei ordnungspolitischen Fragen neue Prioritäten setzen. Man traut dem Markt weniger zu. Das schliesst nicht aus, dass man ihm bei künftigen Abstimmungen trotzdem wieder Regulationspotenzial zutraut.

Gerhard Schwarz: Bei allen drei nationalen Vorlagen hat sich der Souverän für den Status Quo, also weder weniger noch mehr Staat, entschieden. Hingegen hat er in einer Frage bei Managed Care dem Bundesrat eine deutliche Abfuhr erteilt. Das ist keine Aussage für mehr Staat. Die kantonalen und kommunalen Vorlagen zeigen kein eindeutiges Bild.

Man stimmt wirtschaftsfeindlich

Steuergeschenke für Grossunternehmen? «Nein danke», sagt das Volk in Basel-Stadt wie im Kanton Zürich. Auch die Pauschalbesteuerung für Ausländer hat es zunehmend schwer: Vereinzelt wurden diese Privilegien abgeschafft. Das Ja zur Beschränkung des Zweitwohnungsbaus im Berggebiet war auch nicht eben wirtschaftsfreundlich.

Kurt Imhof: Ein Teil der globalisierten Wirtschaft hat sich, etwa mit ihren Boni, von sozial-moralischen Grundsätzen der Gesellschaft verabschiedet. Jetzt zeigt sich an der Urne eine starke Reaktion, die weit ins Bürgertum und bis in SVP-Wählerschichten hineinreicht. Diese Leute sagen sich: Auch globale Firmen müssen sich an die sozial-moralischen Grundsätze demokratisch gewachsener Kulturen halten.

Gerhard Schwarz: Die Auns-Initiative wurde vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse mit einigem Aufwand bekämpft. Insofern ist das Ergebnis im Sinne der Wirtschaft. Die Bauspar- Initiative war aus marktwirtschaftlicher Sicht fragwürdig. Managed Care ist vielleicht ein wenig auch am unglücklichen Namen gescheitert. Alles, was nach Manager tönt, ist nicht sehr populär. Darin mag man eine gewisse Wirtschaftsfeindlichkeit sehen.

Man ist zufrieden mit dem Status quo

Unterdurchschnittliche 38 Prozent der Stimmberechtigten sind am Wochenende an die Urne gegangen. 62 Prozent liessen ihr Abstimmungscouvert also unbenützt liegen. Über die Hälfte der Stimmberechtigten foutiert sich um die Politik oder ist mit den herrschenden Zuständen einverstanden.

Kurt Imhof: In weiten Teilen der Bevölkerung sind eine gewisse Entpolitisierung und ein Wunsch nach Sicherheit irgendwo in der politischen Mitte feststellbar. Viele Menschen ödet die Polarisierung in der Schweiz inzwischen an. Eine Identifizierung mit der Ausländer und Identitätspolitik der SVP ist zwar in breiten Bevölkerungskreisen vorhanden, aber die Reputation der SVP als Partei ist am Sinken.

Gerhard Schwarz: Eher bedeutet es wohl eine gewisse Reformunwilligkeit und -unfähigkeit. Gerade im Gesundheitssektor kann von Zufriedenheit nicht die Rede sein, sind sich doch alle einig, dass es so nicht weitergehen kann. Aber jede Reform hat auch Verlierer, die sich viel stärker engagieren als die potenziellen Gewinner.

Man stimmt eigennützig

Acht Jahre lang feilten die Politiker an einem Kompromiss in der Gesundheitsreform. Als schliesslich ihr Vorschlag auf dem Tisch lag, ärztliche Versorgungsnetze einzuführen, um die stets steigenden Kosten zu senken, sagten die Bürger schroff Nein. Höhere Selbstbeteiligung und die Angst, den Spezialarzt nicht mehr frei wählen zu können, liessen eine Mehrheit zur Roten Karte greifen. Auch im Kanton Basel-Landschaft war beim Nein zum Sparpaket die Furcht vor persönlichen Nachteilen mit im Spiel.

Kurt Imhof: Man kann die Abstimmungsergebnisse anders lesen: Der Wert der Solidarität ist wieder etwas gestiegen. Die Bürger wollen nicht eine Medizin, welche die Ärzte in eine Ambivalenz von Budgetgrenzen und bestmöglicher Versorgung drängt und dabei die benachteiligt, welche die Differenz nicht mehr mit eigenem Geld bezahlen können. Auch Sparpakete haben die Eigenschaft, den tieferen Einkommensschichten mehr wehzutun als den höheren.

Gerhard Schwarz: Abstimmungen sind dazu da, trotz unterschiedlichen Interessen zu kollektiven Entscheiden zu kommen. In der Regel basiert das Stimmverhalten auf dem, was als Eigeninteresse wahrgenommen wird. Manchmal wird dies eher eng und kurzfristig interpretiert. Wer längerfristig denkt und das Ganze ins Visier nimmt, verfolgt auch Eigeninteressen er interpretiert sie nur etwas anders.

Man stimmt unideologisch

Wenn es um Ausländer geht, legen die Schweizer verschiedene Massstäbe an. Im Asylbereich zeigen sie eher Härte (Ja zur Ausschaffungs-Initiative), für den freien Personenverkehr mit der EU aber sind sie zu haben (Ja zur Erweiterung der Freizügigkeit mit Rumänien und Bulgarien 2009).

Kurt Imhof: Die Schweiz ist zu einer Stimmungsdemokratie verkommen, die immer emotionaler funktioniert. Der emotionale Faktor bei Abstimmungsentscheiden ist wichtiger, weltanschaulich begründete Urteile sind seltener geworden. Mit ein Grund dafür ist, dass die Parteien an Wählerbindung und der Weltanschauungsjournalismus und der argumentationsstarke Informationsjournalismus in den inzwischen am meisten verbreiteten Medien an Bedeutung verloren haben.

Gerhard Schwarz: Die Stimmbürger folgen nicht konsequent irgendwelchen Parteiparolen. Das ist auch gut so. Es ist manchmal auch schwierig, wenn Parteien in sich zerstritten sind oder im Laufe der Zeit Kapriolen schlagen. Hingegen lassen sich sicher nach wie vor viele Stimmbürger von Weltanschauungen und Werten leiten.

Man stimmt inkonsequent

Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheit bei den Ladenöffnungszeiten sind wieder mehrheitsfähig im Frühjahr aber sagten die Schweizer liberal Nein zu administrierten Buchpreisen. Und im 2009 verwarfen sie eine Initiative zum Verbot der Kriegsmaterialausfuhr, weil dadurch Arbeitsplätze verloren gegangen wären. Auch eine Initiative zur Einschränkung des Steuerwettbewerbs fand 2010 keine Mehrheit.

Kurt Imhof: Es zeigt in der Tat eine neue Unberechenbarkeit. Teilweise lässt sie sich jedoch erklären: Die Problematisierung des Fremden und die resonanzstarke Darstellung der Schweiz als Insel haben als Kehrseite eine gestiegene Bedeutung der Binnensolidarität unter Schweizern. Man hat zum Beispiel erkannt, dass die Bauspar-Initiative ein Unding war, weil sie diejenigen privilegierte, die überhaupt Geld fürs Bausparen zur Seite legen konnten. In St. Gallen übrigens wurde vergangenen Sonntag über die Reduktion der Nothilfe für Demente und Schwerbehinderte abgestimmt Die St. Galler haben Nein gesagt dazu. Wenn die SVP jetzt das Gesundheitswesen privatisieren will, unterschätzt sie genau diesen Trend, den sie ungewollt mitbegründet hat: Nämlich dass sich Schweizer vermehrt solidarisch zeigen gegenüber Schweizern. Die Widersprüche in der Programmatik der SVP brechen verstärkt auf.

Gerhard Schwarz: Als inkonsequent empfand ich höchstens, dass mit dem (dazu noch falschen) Argument, Managed Care schalte die freie Arztwahl aus, so viele Stimmen gewonnen werden konnten. Es waren zum Teil die gleichen Gruppierungen, die in vielen anderen Bereichen nicht müde werden, den Wettbewerb zu verteufeln, die hier mit dem völlig gegensätzlichen Argument der Gefährdung des Wettbewerbs obsiegten.

Dieser Artikel erschien in der «Basler Zeitung» vom 20. Juni 2012.