Vom irischen Sozial- und Wirtschaftsphilosophen Charles Handy stammt die These, Frösche, die man in siedendes Wasser werfe, versuchten, sofort wieder herauszuspringen; gebe man sie aber in lauwarmes Wasser und erwärme es langsam, blieben sie ruhig und fühlten sich wohl – bis es zu spät sei. Die Geschichte ist zwar wohl nur «ben trovato», aber als Gleichnis für das Verhalten der Menschen eignet sie sich dennoch. An alles, was graduell und daher kaum merklich passiert, gewöhnen wir uns.

Das gilt auch für den Freiheitsverlust. Hätte man vor 50 Jahren die Bevölkerung gefragt, ob sie all die freiheitseinengenden Regeln, die in den letzten Jahrzehnten erlassen wurden, wirklich haben möchte, wäre die Antwort ein empörtes und eindeutiges Nein gewesen. Aber da wir die Einengungen nicht auf einen Schlag zu spüren bekamen, sondern schleichend, erscheint uns das regulatorische Korsett schon fast als angenehm, jedenfalls als völlig normal. Zudem erfolgen ja fast alle Regulierungen mit hehren Absichten, sodass der Preis der einzelnen Regulierung selten hoch wirkt; er scheint sich fast jedes Mal zu lohnen.

Die Zahl der Erlasse und Regulierungen steigt dramatisch

Das Resultat dessen, dass wir die Freiheitsbeschränkungen kaum wahrnehmen, ist erschreckend: Innen zehn Jahren (2004-2014) ist der Seitenumfang der in der systematischen Rechtssammlung des Bundes erfassten geltenden Erlasse des Landesrechts und des Staatsvertragsrechts von rund 54 000 auf 66 000 Seiten gestiegen. Dabei wird eine Vielzahl von Gesetzen in dieser Sammlung gar nicht erfasst, etwa diejenigen der in den letzten Jahren immer aktiveren Aufsichtsbehörden wie der eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) oder der eidgenössischen Elektrizitätskommission (Elcom). Und ebenfalls nicht erfasst sind in diesen Zahlen die kantonalen und kommunalen Regelungen, die oft sehr unmittelbar unser tägliches Leben betreffen, die uns sagen, wann wir einkaufen, wo wir rauchen oder was wir wie bauen dürfen – und vieles andere mehr. Meist thematisiert man das Regulierungsdickicht zu sehr unter dem wirtschaftlichen Aspekt. Natürlich können sich Regulierungen für Betriebe mit Tausenden Angestellten rasch zu einer beträchtlichen Belastung summieren. Und gewiss ist es gerade für kleinere und mittlere Unternehmen beunruhigend, wenn die Schweiz, wie das in den letzten Jahren geschehen ist, immer mehr reguliert und auch relativ zu den anderen Ländern, die ihren Regulierungsdschungel ausholzen, unfreier wird. Das ist eine ernstzunehmende Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz und für ihren Wohlstand.

Die Regulierungsdichte verdrängt die Eigenverantwortung

Mindestens so bedrohlich sind jedoch die gesellschaftlichen Nachteile der zunehmenden Regulierung. Sie verdrängt am Laufmeter die Eigenverantwortung. Je mehr staatliche Regeln es gibt, desto mehr glaubt man nämlich, seiner Verantwortung Genüge zu tun, wenn man diese Regeln einhält. Legalität tritt an die Stelle der Legitimität. Zudem geht durch das Dickicht an Regulierungen, das von niemandem überblickt werden kann, das Vertrauen in Politik, Regierung und Behörden, kurz: in die Staatsgewalt verloren. Und schliesslich ist die Regulierung ein Nährboden für Schattenwirtschaft, Korruption und Umgehungen aller Art. Insofern ist das Regulierungsdickicht auf vielfältigste Weise ein Angriff auf die Fundamente der liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Trotzdem findet es in der Politik nicht jenes Gewicht, das es haben müsste – weil man damit kaum Wähler gewinnen kann. Dazu kommt noch , dass oft ausgerechnet die gleichen Unternehmen, die unter der Last der Regulierungen ächzen, ziemlich willig in regulierungsschwere Vereinbarungen mit dem Ausland einwilligen, wenn sie glauben, damit einen verbesserten Marktzugang erkaufen zu können. Dass die Umsetzung solch internationaler Verträge dann nicht mit Zurückhaltung, sondern mit helvetischem Perfektionismus erfolgt, ist ein Eigengoal, das wir uns oft schiessen.

Avenir Suisse hat unlängst eine Studie zur Regulierungsdichte in der Schweiz publiziert, um klarzumachen, wie stark die Temperatur im Kochtopf schon gestiegen ist und dass es dringend Gegenmassnahmen braucht, wenn es uns nicht so ergehen soll wie den Fröschen im Gleichnis von Charles Handy.

Dieser Artikel erschien in der «Aargauer Zeitung» vom 27. November 2014.