Die liberale Denkfabrik hat ein zusammenhängendes Konzept für die Schweiz herausgegeben. Die 44 Ideen sollen die politische Debatte beleben. Nach einem kleinen Medien-Strohfeuer geschah vorerst nichts. Die Ausnahme ist die SP Schweiz.

«Ideen für die Schweiz» nennt der liberale Think-tank Avenir Suisse seine Mitte Januar vorgestellte Publikation. Sie steht in der Nachfolge des legendären Weissbuchs von 1995 «Mut zum Aufbruch», mit dem eine Herausgebergruppe um David de Pury «Eine wirtschaftspolitische Agenda für die Schweiz» vorlegte. Den Autoren von damals ging es darum, eine behäbig gewordene Gesellschaft aufzurütteln, damit sie den Einstieg ins Informationszeitalter nicht verschlafe. So war denn das Weissbuch von 1995 ein Fanal, das mächtig Wirbel machte und ideologisch aufgeladene Debatten provozierte. Im Rückblick allerdings erweist es sich als wenig fundierte Provokation. Das Weissbuch predigte Deregulierung und Abbau des Sozialstaats. Irland und Portugal figurierten als leuchtende Beispiele erfolgreicher Wirtschaftspolitik. Die Promotoren des «Aufbruchs» möchten vermutlich lieber nicht an den Inhalt dieses Machwerks erinnert werden. Das Ziel, eine breite Diskussion über Optionen für die Schweiz zu entfachen, wurde hingegen erreicht.

SP Schweiz stellt sich der Diskussion

Es könnte fast scheinen, als ob dem Avenir-Suisse-Buch das gegenteilige Los beschieden wäre. Von Aufregung in der Öffentlichkeit oder auch nur im politischen Soziotop keine Spur. Ausser der SPS liess sich bis anhin keine Partei zu den 44 Ideen vernehmen, und die Stellungnahme der Sozialdemokraten hält sich mit kämpferischen Tönen zurück. Vielmehr zollen die Genossen dem liberalen Think-tank sogar dosiertes Lob. Das Papier der SP hält eingangs fest: «Die Analyse der Autoren ist in verschiedenen Punkten richtig, und es werden interessante Ideen vorgebracht, die aus diesem Umfeld teilweise überraschen und Anerkennung verdienen.» Selbstverständlich hält dann aber das 15-seitige Dokument die Meinungsdifferenzen der SP gegenüber dem Avenir-Suisse-Buch klar und deutlich fest.

Nicht nur die einzelnen Vorschläge aus der liberalen Ideenküche sind interessant, sondern besonders auch der Versuch, liberale Politik als kohärente Gesamtschau zu entwickeln und auf die – aus dieser Sicht – wichtigsten Baustellen der schweizerischen Gesellschaft zu adaptieren. Zwei durchgängig angewandte Maximen sind es, die trotz Verzicht auf ein ausführliches theoretisches Gerüst dem Buch einen geschlossenen Duktus verleihen: Das eine ist der Grundsatz der Kostenwahrheit, das andere derjenige der Eigenverantwortlichkeit. Der erste meint Transparenz bei Kostenberechnung und Finanzierung staatlicher oder gemeinwirtschaftlicher Leistungen, Verzicht auf Quersubventionierungen und Vollständigkeit der Kostenausweise. Der zweite enthält die Forderung, Nutzniesser von Leistungen sollten diese soweit möglich selbst wählen können und bezahlen müssen – Letzteres (wiederum: wenn möglich) durch unmittelbare Abgeltung oder (wenn nicht möglich) auf indirektem Weg durch kostendeckende Einlagen in Fonds, Prämien für Versicherungen etc.

Die sozialdemokratische Antwort auf das liberale Manifest weicht diesen Maximen mit Vorliebe elastisch aus. Weder weist die SP den Grundsatz der Kostenwahrheit frontal zurück, noch widerspricht sie jenem der Eigenverantwortung explizit. Dennoch wird hinreichend deutlich, dass diese beiden Maximen im politischen Denken der SP-Programmatiker nicht zuhause sind. So reagiert die SP beispielsweise auf die Forderung, nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Verkehr Kostenwahrheit walten zu lassen, ablehnend: Es dürfe nicht sein, dass die erfolgreichen Ansätze zur Verlagerung in Richtung ÖV mit abschreckenden Transportpreisen hintertrieben würden. Ähnlich die Argumentation gegen die stärkere Gewichtung des Prinzips Eigenverantwortung etwa im Gesundheitswesen: Die SP sieht darin vor allem Bestrebungen zum Abbau sozialer Leistungen, die nach ihrer Auffassung grundsätzlich zu bekämpfen sind.

Wenig Tagespolitik, viel langfristige Programmatik

Obschon «Ideen für die Schweiz» nicht auf tagespolitische Themen zielt, widmet es sich zweien der am 3. März zur Abstimmung kommenden Geschäfte eingehend. Avenir Suisse bekämpft im Kapitel zur Corporate Governance (Regeln für die Führung von Aktiengesellschaften) explizit die Minder-Initiative. Befindet sie sich damit in Übereinstimmung mit «zugewandten Orten», so ist genau dies beim zweiten ihrer aktuellen Positionsbezüge nicht der Fall: Der Think-tank macht sich im Abschnitt zur räumlichen Entwicklung der Schweiz ohne Wenn und Aber für die ebenfalls am 3. März zur Volksabstimmung vorgelegte Revision des Raumplanungsgesetzes stark – und befindet sich damit im Widerspruch zur FDP, zu Economiesuisse und weiteren Wirtschaftsverbänden (die ihre Abstimmungsparolen nach der Veröffentlichung des Avenir-Suisse-Buches fassten).

Diese zwei tagespolitischen Themen sind Ausnahmen; hauptsächlich beschäftigt sich das Buch mit «Ideen für morgen» und «Ideen für übermorgen» – so heissen jeweils die auf mittlere und lange Frist ausgerichteten Konkretionen in den zwölf wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Kapiteln. Darin geht es um folgende Themen:

Arbeitsmarkt und Migration, Geld und Währung, Steuerpolitik, Bildung/Forschung/Innovation, Altersvorsorge, Gesundheit, Verkehr, Energie, Räumliche Entwicklung, Corporate Governance, Politische Institutionen und Gesellschaftspolitik.

Das materialreiche Buch ist durchwegs gut lesbar und bemüht sich um plausible Ableitung der «Ideen» aus den jeweils vorangehenden Fakten und Überlegungen zum Thema. Dass dies nicht überall überzeugt, kann teilweise am Zwang zur knappen Darstellung liegen. In einzelnen Fällen dürfte es hingegen mit den Ideen selbst zu tun haben. Avenir Suisse schlägt beispielsweise eine freiwillige Abgabe bei der Anstellung von Ausländern vor. Diese soll den Zuzug in den Arbeitsmarkt Schweiz bremsen und als eine Art «Beitrittsgebühr» die mit der Einwanderung erlangten Vorteile abgelten. Allerdings bleibt völlig unklar, wie eine derartige Massnahme rechtlich funktionieren könnte und welche Wirkung sie im vorgeschlagenen Status der Freiwilligkeit überhaupt hätte.

Nicht ausgereift erscheinen auch die Vorschläge für Bildungsgutscheine und freie Wahl der Bildungsanbieter, für einen persönlichen «Medical Savings Account» zwecks privater Vorsorge für teure Behandlungen und ebenso für die Privatisierung der Verkehrsinfrastruktur bei Strassen und (vor allem) Bahnen. Bei diesen und einigen weiteren der 44 Ideen bleibt manches unklar und provoziert möglicherweise weniger Widerspruch als vielmehr Rückfragen. Dies wiederum darf bei einem als Aufforderung zur Debatte konzipierten Buch durchaus sein.

Sinnvolle Vorschläge

Der Grossteil dessen aber, was als Konzepte für morgen und übermorgen angeboten wird, ist hinreichend klar, um zeigen zu können, dass auf zahlreichen Handlungsfeldern kreative, bisher in der Politik kaum diskutierte Ansätze möglich sind. Ein Vorschlag zur Steuerpolitik regt beispielsweise den langfristigen Wechsel des Systems von direkte Bundessteuer und Mehrwertsteuer zu einer Kombination von progressiver Konsumsteuer und Unternehmens-Cashflow-Steuer an, mit der das Investieren attraktiver gemacht werden soll.

Im Abschnitt Bildungspolitik überzeugt der Vorschlag, in der Berufslehre mehr Allgemeinbildung und weniger Spezialisierung zu pflegen. Auch die Postulate zur Einführung von dualen Studiengängen (berufsbezogene Ausbildung kombiniert mit tertiärer Bildung) an Fachhochschulen sowie zur besseren Differenzierung zwischen Fachhochschulen und Universitäten leuchten ein.

Bei den Vorschlägen zur Verkehrspolitik dürften sowohl die mittelfristige Erhöhung des Kostendeckungsgrades im Verkehr als auch die langfristige Einführung von umfassendem «Mobility Pricing» auf Schiene und Strasse über die liberale Gesinnungsgemeinschaft hinaus Zustimmung finden.

Kühn, aber interessant ist beim Thema Energie der Systembaustein, allen Stromverbrauchern die flexiblen Marktpreise direkt weiterzugeben und mit «Smart Metering» den Markt für alle transparent zu machen.

Der Abschnitt zur Corporate Governance enthält den Vorschlag zur Einführung einer «Kumulusaktie»: die Vorzugsbehandlung von loyalen Aktionären, die ihre Anteile während einer Mindestdauer halten. Diese Neuerung, so vermutet Avenir Suisse, könnte die Börsenkotierung (wieder) interessanter machen und langfristig orientierte Anleger belohnen.

Man darf wohl behaupten, dass sachliche Auseinandersetzungen um die mit «Ideen für die Schweiz» auf den Tisch gelegten Konzepte der schweizerischen Politik gut täten. Die SP hat sich die Mühe gemacht, ihre Position zu allen 44 Ideen darzulegen oder wenigstens kurz zu skizzieren. Es ist zu wünschen, dass nicht nur weitere Parteien, sondern auch andere politische Akteure sich ähnlich fundiert mit dem Buch von Avenir Suisse befassen und die Ergebnisse veröffentlichen werden.

Dieser Artikel erschien im Journal 21 vom 07. Februar 2013.