Die Wiedervereinigung brachte Deutschland 17 Millionen zusätzliche Einwohner mit einem völlig abgeschriebenen Kapitalstock. Viele Probleme der letzten Jahre – wie Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung – sind hierauf zurückzuführen. 25 Jahre nach dem Mauerfall werden die Erfolge dieses historischen Kraftaktes zusehends offensichtlich.
Am 9. November 2014 jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 25. Mal. Dieses epochale Ereignis, welches das Ende der DDR einläutete, war zugleich Auftakt des «Aufbaus Ost» im wiedervereinigten Deutschland. Die Bilanz dieses historischen Kraftaktes ist beeindruckend und wird auch in Deutschland noch viel zu wenig gewürdigt. Zunächst war dieser Erfolg kaum zu erwarten, denn die Kosten des Wiederaufbaus, die Beseitigung der ökologischen und sozialen Altlasten, waren gigantisch.
40 Jahre Sozialismus als Antineutronenbombe
Aus volkswirtschaftlicher Sicht scheint es folgerichtig, dass die DDR nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft unterging: Jahrelang hatte man von der Substanz gelebt, und als am Ende der nationale Kapitalstock vollständig aufgezehrt war, kollabierte die DDR wirtschaftlich. Die gesamte Infrastruktur war verschlissen, der Wohnungsbestand verfallen, sämtliche Fabriken abgeschrieben, ein Grossteil des Humankapitals technologisch obsolet, die Natur ausgeplündert.
Noch 1990 schätzte der Chef der Treuhandgesellschaft, die mit der Privatisierung der volkseigenen Betriebe beauftragt war, den Wert des Portfolios auf 600 Milliarden Deutsche Mark. Am Ende des Abwicklungsprozesses stand ein Minus von über 200 Milliarden DM – und ein weitgehend deindustrialisierter Osten. Auch zwei Millionen enteignete Liegenschaften galt es zu restituieren – ein gigantischer administrativer Akt, der zwei Jahrzehnte in Anspruch nahm. Für den Abzug der 550 000 Rotarmisten zahlte Deutschland 15 Milliarden DM an Russland und für die anschliessende Altlastensanierung der 3000 häufig hochgradig kontaminierten Militärliegenschaften nochmals geschätzte 25 Milliarden DM.
Wer Anfang der 1990er Jahre durch die neuen Länder fuhr, sah Ruinenfelder in den Städten und verschlissene Landschaften. Alleine die Umweltsanierung des Braunkohletageabbaus kostete den deutschen Steuerzahler 10 Milliarden Euro, die Sanierung des Uranerzabbaus 6 Milliarden Euro. Ganze Landstriche waren verwüstet, die Umwelt verpestet. Jede Strasse musste bis auf das Strassenbett erneuert werden, jedes Gebäude vom Keller bis auf den Estrich grundsaniert, jede Fabrik komplett ersetzt werden. Alle Autos und langlebigen Konsumgüter, inklusive der Kleider, die die Menschen am Leibe trugen, mussten ersetzt werden. Das berufliche Wissen einer ganzen Generation war in weiten Teilen hinfällig.
Somit waren 40 Jahre Sozialismus vergleichbar mit dem Effekt einer «Antineutronenbombe»: Während eine Neutronenbombe alles Leben zerstört und den Kapitalstock stehen lässt, vernichtete die Misswirtschaft der DDR den gesamten Kapitalstock und liess nur die Menschen am Leben. Ökonomisch gesehen standen die 17 Millionen Einwohner der neuen Bundesländer am Morgen der Wiedervereinigung quasi «nackt» da. Es war die Stunde null, der Beginn eines kollektiven Neuanfangs. Durch ihrer eigenen Hände Arbeit und die Solidarität ihrer 60 Millionen Mitbürger im Westen musste in den letzten 25 Jahren die komplette Kapitalbasis einer Volkswirtschaft neu aufgebaut werden.
Ein Vergleich illustriert die Dimension dieser Herausforderung: Die Bevölkerung der DDR entsprach der heutigen Bevölkerung der Schweiz und Österreichs zusammengenommen. Man stelle sich vor, über den beiden Alpenrepubliken ginge eine Antineutronenbombe nieder und der komplette Gebäudepark, die gesamte Infrastruktur, alle Banken und Fabriken würden über Nacht ausgelöscht – und ein Grossteil des persönlichen Hab und Guts ebenfalls. Kein Wunder, dass Helmut Kohl für seine Prophezeiung, im Osten Deutschlands würden bald «blühende Landschaften» entstehen, lange verhöhnt wurde und der Aufbau Ost von vielen im In- und Ausland als gescheitertes Projekt betrachtet wurde.
Historischer Kraftakt
Zwei Jahrzehnte und über zweitausend Milliarden Franken später ist Ostdeutschland in weiten Teilen neu aufgebaut. Wer durch Dresden, Leipzig, Erfurt oder Stralsund fährt, sieht nagelneue Strassen, durchsanierte Altstädte, moderne Universitäten, leistungsfähige Fabriken und von Umweltschäden befreite Landschaften. Das durch Krieg und Teilung geschundene Berlin erlebte die Transformation zu einer Metropole von europäischem Rang. Die Wiedervereinigung war ein historischer Kraftakt, und es scheint wie ein Wunder, dass Deutschland nicht daran zerbrach.
Zählt man sämtliche Ost-West-Transfers der letzten Jahre zusammen, kommt man auf gut zwei Billionen Euro. Das entspricht ziemlich genau der gesamten deutschen Staatsverschuldung (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialwerke). Dies bedeutet, dass Deutschland ohne die Lasten der Wiedervereinigung heute theoretisch schuldenfrei sein könnte. Diese enorme Last schulterte man ohne Hilfen aus dem Ausland. Im Gegenteil: in all den Jahren blieb Deutschland der grösste Nettozahler in der EU und subventionierte zugleich den Bau der Infrastruktur in anderen Ländern – bis heute.
Viele Jahre war Deutschland der kranke Mann Europas, gebeutelt von hoher Arbeitslosigkeit. Durch die Wiedervereinigung standen Millionen Ostdeutsche plötzlich im gesamtdeutschen Arbeitsmarkt. Massenarbeitslosigkeit, Lohndruck und überbordende Sozialkosten waren die Folge. Gut zwei Jahrzehnte später ist dieses Arbeitskräftereservoir weitgehend absorbiert – dank dem Neuaufbau des Kapitalstocks, den tiefgreifenden Reformen der Agenda 2010, Jahren der Lohnzurückhaltung und einer erfolgreichen Positionierung deutscher Firmen im globalen Wettbewerb. Deutschland hat zwei Millionen Arbeitslose weniger als noch 2005 und die niedrigste Arbeitslosenquote seit 20 Jahren.
Der Beschäftigungsaufbau ist ungebrochen und Ökonomen halten die Rückkehr zur Vollbeschäftigung in den nächsten Jahren für möglich. In Bayern und Baden-Württemberg ist dieses Ziel bereits erreicht. Auch die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern hat sich von 20 auf 10 Prozent reduziert. Und so kommt erstmals seit dem Mauerfall auch wieder die Abwanderung aus Ostdeutschland zum Erliegen. In mehreren der neuen Länder ist der Wanderungssaldo inzwischen sogar positiv. Vor allem Sachsen, Thüringen, das Einzugsgebiet von Berlin und Teile der Ostseeküste profitieren vom Aufschwung.
Seit 2005 wird der spezielle Finanzausgleich für Ostdeutschland (Solidarpakt) allmählich abgeschmolzen und läuft 2020 komplett aus. Die neuen Länder sind dank ihrer Haushaltsdisziplin gut darauf vorbereitet: 2013 erwirtschafteten sie alle Haushaltsüberschüsse – im Gegensatz zu den meisten westdeutschen Gliedstaaten.
Auch in Deutschland treten die guten Nachrichten gegenüber dem kleinkarierten Streit der Tagespolitik häufig in den Hintergrund. Aber 25 Jahre nach der Wiedervereinigung und knapp 10 Jahre nach Beginn der «Agenda 2010» hat Deutschland viele strukturpolitische Hausaufgaben gemacht und beginnt die Früchte dieser Arbeit zu ernten. Auch die Schweiz sollte sich an diesen positiven Entwicklungen erfreuen – denn schliesslich verbindet sie mit Deutschland nicht nur eine geographische Nähe, sondern auch kulturelle Bande und wirtschaftliche Verflechtungen.
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die DDR den Anspruch ihrer Nationalhymne «Auferstanden aus Ruinen – und der Zukunft zugewandt» erst durch ihren Untergang einlösen konnte.
Dieser Artikel erschien im «Schweizer Monat» vom November 2014. Für die Verwendung der Bilder danken wir wir dem Koordinationsbüro für Stadtentwicklung und Projektmanagement - KOSP GmbH und der BSM Beratungsgesellschaft für Stadterneuerung und Modernisierung mbH.