Das konsensuale System der Schweiz mit seinen beiden Polen der Solidarität und der Eigenverantwortung war und bleibt ein Erfolgsmodell. «Vereint sind auch die Schwachen mächtig»: Die Erkenntnis aus dem schweizerischen Nationalepos «Wilhelm Tell» nimmt man in der Schweiz fast mit der Muttermilch auf. Aber im gleichen Werk heisst es auch: «Der Starke ist am mächtigsten allein.» Diese beiden Pole der Solidarität und der Eigenverantwortung, des sozialen und des liberalen Prinzips, stellen gewissermassen das Vermächtnis der Schweiz dar, aus ihnen nähren sich seit Jahrhunderten Identität und Selbstverständnis des Landes.

Nebeneinander von Minderheiten

Der Ausgleich zwischen diesen Prinzipien erfolgt zum einen über den Föderalismus und die Gemeindeautonomie. Sie erlauben es, der Eigenständigkeit von kleinen Gruppen einen grossen Platz einzuräumen, sie ermöglichen das Nebeneinander von religiösen, kulturellen und politischen Minderheiten, weil sich nicht alle einer einheitlichen Doktrin unterwerfen müssen. Zum anderen aber zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Schweiz, dort, wo es tatsächlich gemeinsames Handeln braucht, eine Kultur des Konsenses, nicht erst seit der sogenannten Zauberformel für den Bundesrat von 1959.

Diese legte – bis zu ihrer Aufhebung im Jahr 2003 – die parteipolitische Zusammensetzung des Bundesrates nach einem fixen Schema fest, völlig unabhängig vom Ergebnis der jeweiligen Parlamentswahlen. Den Sozialdemokraten wurden im siebenköpfigen Bundesrat zwei Sitze zugeteilt, den drei bürgerlichen Parteien insgesamt fünf Sitze. Die Kultur des Konsenses in der Schweiz ist aber viel älter als diese Zauberformel, und sie bezieht sich nicht nur auf das Politische. Ihr Spektrum reicht von der starken Betonung der Schiedsgerichtsbarkeit bis zur ausgeprägten Sozialpartnerschaft.

Verbinden und nicht trennen

Damit ist schon angedeutet, dass die Geschichte der Schweiz nicht ohne Konflikte war und ist. Die Schweizer sind nicht von Natur aus friedfertig. Vielmehr zwang zum einen die enorme Vielfalt zum Konsens, zur Willensnation Schweiz, denn, wie es Carl Hilty ausgedrückt hat, das, was oft einen Staat zusammenhält, gemeinsame Herkunft, Sprache, Kultur oder Religion, zöge die Schweiz auseinander; da blieb nicht viel anderes übrig, als wenigstens im Politischen das Gemeinsame zu suchen. Zum andern half auch die «Aussenfront», der Verzicht auf Bündnispartner, der bewusste Entscheid gegen Machtpolitik, gelegentlich auch der nicht immer sanfte Druck aus dem Ausland, dass man das Verbindende über das Trennende stellte.

Breit abgestützte Entscheidungen

Die Konsensorientierung äusserte sich in den Anfängen in der Art der Konfliktbewältigung. An die Stelle kriegerischer Konflikte oder formalisierten Prozessierens trat die Schlichtung, das «Miteinander-Reden». Wichtiger aber, und heute prägend, ist der Wille, bei Entscheiden eine breite Abstützung zu suchen. Nicht minimale Mehrheiten sollen entscheiden, sondern möglichst viele relevante Kräfte. Zum Ausdruck kommt dies nicht zuletzt in der Zusammensetzung der Exekutivgewalten, auch der direkt vom Volk gewählten. Natürlich kann es bei Abstimmungen zu knappen Mehrheiten kommen, aber relativ breit abgestützte Kompromisse bilden gleichwohl die Regel. So kommen etwa bei Abstimmungen über Initiativen die Gegenvorschläge den Initianten oft so weit entgegen, dass diese mit der schliesslich häufig obsiegenden Lösung des Bundesrates gut leben können.

Legitimität, Stabilität und Kontinuität

Einige Vorteile dieser Kultur des Konsenses sind offensichtlich, andere umstritten.

1. Was von einer breiten Mehrheit als Kompromiss errungen wird, besitzt eine hohe Legitimität. Es wird akzeptiert und nicht als «autoritärer» Entscheid einer knappen Mehrheit diskreditiert. Der Graben zwischen der «Classe politique» und dem Volk oder der Graben zwischen der einen Weltanschauung und der anderen kann sich nicht so weit öffnen. Dies gilt natürlich auch, wenn eine einzelne Partei allein sich auf eine breite Volksmehrheit stützen kann.

2. Ebenso wichtig ist die Stabilität, die jedem konsensualen System eigen ist. Wo sich nicht alle vier Jahre knappe Mehrheiten an der Macht abwechseln, können Unternehmen und Privathaushalte besser planen; sie müssen nicht mit bösen Überraschungen rechnen. Die Bedeutung der auf Konsensorientierung basierenden Stabilität der Schweiz für die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes wird vermutlich unterschätzt, weil sie so selbstverständlich geworden ist. Deshalb wird ihr zu wenig Sorge getragen. Dabei war und ist diese Stabilität für die Qualität des Finanzplatzes Schweiz wohl wichtiger als das ins Wanken geratene Bankgeheimnis und der langfristig zwar harte, aber kurzfristig oft schwankende Franken.

3. Stabilität geht mit Kontinuität einher: Der Konsens ist Revolutionen jeglicher Art abhold, er führt zu einer evolutiven Entwicklung, in der sich das Erbe, das individuelle und das kollektive, erhalten und zugleich behutsam weiterentwickeln und mehren lässt.

4. Was oft als Schwäche einer Kultur des Konsenses empfunden wird, nämlich die Langsamkeit des Systems, die sich aus der langwierigen Suche nach dem Kompromiss ergibt, ist es aus liberaler Sicht nicht unbedingt. Die Suche nach Konsens verzögert oder verhindert ja keineswegs das, was offenkundig nötig ist und über das sich alle einig sind, sondern nur so manche Schnellschüsse, die eine knappe Mehrheit für unabdingbar hält. Erst im Nachhinein merkt man dann oft, dass ein Verharren auf dem Status quo, ein verzögerter Entscheid oder ein Kompromiss kein Unglück war bzw. ist.

Konsensorientierung als historisches Vermächtnis

Trotzdem werden zunehmend Zweifel am politischen Konsenssystem laut, nicht zuletzt, weil das schweizerische politische System insgesamt international so quer in der Landschaft steht, dass es vielen Beobachtern als nicht zeitgemäss erscheint. In diesem Unbehagen kommt jedoch ein Mangel an umfassender Perspektive zum Ausdruck. Die Risse in der Zauberformel seit 2003 sollten nicht überbewertet werden, da die Schweiz nur zu einem kleinen Teil aus dem Bundesratszimmer heraus regiert wird.

Insgesamt bleibt die Schweiz konsensorientierter als die meisten Länder. Und der vermeintliche Mangel an Führung, Gestaltung und zeitgerechter Erneuerung, der sich aus der Konsensorientierung ergibt, verliert in einer zeitlichen Betrachtung, die sich nicht nur am aktuellen Rand orientiert, ebenfalls seinen Makel. Das dem Konsens verdankte Beharren auf dem Bewährten, die Absage an die Erneuerung bloss um der Erneuerung willen, wird kaum irgendwo so gut institutionell untermauert wie in der Schweiz. Das hat immerhin dazu beigetragen, dass die Schweiz in den letzten 150 Jahren nicht mehrere politische Regime, zwei Kriege, zahlreiche Währungen und Hyperinflationen durchleiden musste.

Nichts spricht dagegen, dass diese Kultur des Konsenses und der Stabilität sich auch, wenn man in einigen Jahrzehnten zurückblickt, wieder oder immer noch als erfolgreich erweisen wird. Weshalb es sich lohnt, dieses kulturelle Erbe, diese über die Jahrhunderte geäufnete Hinterlassenschaft weiter zu pflegen und zu hegen. Sie bleibt hier und heute zukunftsfähig.

Dieser Artikel erschien im Magazin «Unsere Bank: Porträt 2010» der Bank Sarasin im Mai 2011. Avenir Suisse hat zu diesem Thema Anfang Juli das Buch «Konkordanz in der Krise» herausgegeben.