Die Wirtschaft warnt vor «Stromunterbrüchen», um den Atomausstieg abzuwenden. Beim liberalen Thinktank Avenir Suisse runzelt man die Stirn.

Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse will verhindern, dass der Bundesrat und das Parlament in den nächsten Wochen die Option Kernenergie fallen lassen. Flankiert von Vertretern des Gewerbeverbands, der Maschinenindustrie, der chemisch-pharmazeutischen Industrie und anderer energieintensiver Branchen hat Economiesuisse-Präsident Gerold Bührer gestern vor den Medien erklärt, bei einem Ausstieg drohten «erhebliche Strompreiserhöhungen oder gar Stromunterbrüche». Beides beeinträchtige die «Konkurrenzfähigkeit der Schweiz massiv». Nur mit Kernkraft lasse sich in absehbarer Zeit eine genügend autonome Versorgung sicherstellen. Diese sei umso wichtiger, als es «blauäugig» sei, zu glauben, dass die Schweiz jederzeit genug Strom importieren könne. Im Zuge der nahenden Stromknappheit, so Bührer, könnten «nationalistische Tendenzen» dazu führen, «dass die Zufuhr von preiswertem Strom nicht immer gewährleistet ist».

Keine Spur von Kriegswirtschaft

Dass rot-grünen Politikern und Umweltverbänden die Pro-Atom-Kampagne der Wirtschaft nicht gefällt, überrascht nicht. Doch auch im bürgerlichen Lager lösen die Argumente unter Experten Erstaunen aus. Urs Meister, Energiespezialist beim liberalen Thinktank Avenir Suisse, sieht derzeit im europäischen Strommarkt keine «kriegswirtschaftlichen» Tendenzen – und kann sich solche auch in Zukunft nicht vorstellen. «Der europäische Strommarkt funktioniert immer besser.» Die EU sei daran, die Integration weiter voranzutreiben. Allein der geplante Ausbau von unregelmässiger Energie wie Wind und Sonne zwinge zu einem «immer stärkeren europäischen Denken», da der internationale Handel eine wichtige Grundlage für den Ausgleich der Produktionsschwankungen darstelle.

Preisargument «relativieren»

Die Sorge, dass der Import von EUStrom unserer Wirtschaft Wettbewerbsnachteile beschere, teilt Meister nur beschränkt. «Das Preisargument muss man stark relativieren.» Wenn der Strommarkt ganz liberalisiert sei, zahlten die Schweizer Unternehmer für die Energie den gleichen Preis wie in den Nachbarländern, nämlich den Marktpreis. Darauf habe der allfällige Bau eines neuen KKW in der Schweiz wenig Einfl uss. Denn der Marktpreis orientiere sich in Europa üblicherweise an den Produktionskosten grosser Gaskraftwerke.

Angst vor Förderabgaben

Heute profitieren Schweizer Verbraucher von faktisch subventionierten Strompreisen, indem sie die sogenannten Gestehungskosten zahlen, die in vielen Landesteilen etwas unter den Marktpreisen liegen. Meister zufolge wird dieser Vorteil aber mit der absehbaren vollständigen Liberalisierung ohnehin wegfallen. Frankreich, das seine Industrie mit ähnlichen Massnahmen fördere, sei von der EU-Kommission wegen wettbewerbsverzerrender Tarife kritisiert worden. Der Avenir- Suisse-Experte vermutet aber, dass in der Schweiz viele Verbraucher hoffen, noch möglichst lange von faktisch subventionierten Preisen zu profitieren. Entscheidender sei aber die Angst vor höheren Förderabgaben. Denn falls die Politik den Verzicht auf neue Kernkraftwerke beschliesst, steigt der Druck, alternative Energien zu fördern, insbesondere über die Erhöhung der kostendeckenden Einspeisevergütung – dadurch verteuert sich der Strom. Allerdings kennen auch andere Länder Förderabgaben.

Das wesentliche Argument für die Kernkraft sieht Meister darin, dass diese einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit leiste – aber vor allem in technischem Sinn. Denn Produktionskapazitäten nahe bei den Verbrauchern erhöhten die Stabilität der Versorgung, etwa im Fall von Netzstörungen im europäischen Kontext.

Dieser Artikel erschien in «Der Bund» am 18. Mai 2011.