Viel ist dieser Tage von einem schweizerischen Beschäftigungswunder die Rede. Nun weist die Schweiz bereits seit Jahrzehnten die niedrigsten Arbeitslosenquoten Europas aus, nahe der Vollbeschäftigung. Mit «Jobwunder» ist daher eher das im internationalen Vergleich wie vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise erstaunlich starke Beschäftigungswachstum der Schweiz in der letzten Zeit gemeint. In den fünf Jahren zwischen 2005 und 2010 ist die Zahl der Beschäftigten (wenn man alles auf Vollzeitbeschäftigte umrechnet) um beinahe 9% oder rund 277 000 gestiegen, von gut 3,1 Mio. auf fast 3,4 Mio. Die Beobachtung spielt nicht zuletzt mit Blick auf die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte eine Rolle. Diese zögen nicht in die Schweiz, wenn sie hier keine Arbeit fänden.

Betrachtet man einen längeren Zeitraum, sieht der Zuwachs allerdings weniger imposant aus. In den letzten zehn Jahren nahm die Beschäftigung wohl um über 320 000 Vollzeitstellen oder 10,5% zu. In den letzten zwanzig Jahren betrug der Zuwachs aber nur rund 120 000 oder 3,7%, weil die 1990er Jahre in der Schweiz von einer ausgeprägten Wachstumsschwäche gekennzeichnet waren und einen Beschäftigungsrückgang von über 200 000 Beschäftigten (gut 6%) brachten.

Die auf den ersten Blick bemerkenswerte Dynamik des schweizerischen Arbeitsmarktes erweist sich bei genauerem Hinsehen ohnehin als trügerisch. Der Stellenzuwachs ist nämlich zum kleineren Teil Ausdruck einer boomenden Unternehmerwirtschaft. Je nach Zeitraum, den man betrachtet, geht der Zuwachs der Beschäftigung zu einem grossen Teil oder gar gänzlich auf das Konto des öffentlichen Sektors – vor allem des Gesundheitswesens. Am krassesten zeigt sich das, wenn man den ganzen Zeitraum seit 1990 analysiert. Dann steht einem Verlust an Beschäftigung von 80 000 Vollzeitäquivalenten im privaten Sektor ein Beschäftigungsgewinn von über 200 000 im staatlichen und parastaatlichen Sektor gegenüber. Ohne den öffentlichen Sektor wäre die Beschäftigung in der Schweiz also geschrumpft. Und hätte sich dieser in den letzten 20 Jahren so rückläufig bewegt wie der private Sektor, läge die Beschäftigung heute rund 3% unter dem Stand von Anfang der 1990er Jahre.

Die Beschäftigung in der Schweiz ist somit dort gewachsen, wo sich die Produktivität kaum messen lässt. Seit Anfang der 1990er Jahre sind in der öffentlichen Verwaltung rund 27 000 Vollzeitstellen dazugekommen, in Erziehung und Unterricht 51 000, im Gesundheits- und Sozialwesen 138 000. Andere Bereiche des öffentlichen Sektors wie Energieversorgung oder Wasserversorgung verzeichneten leichte Rückgänge oder nur kleine Zuwächse. Das Gesundheits- und Sozialwesen ist der dominante Treiber des Stellenzuwachses in der Schweiz. Es reisst alles heraus, den privaten Sektor ebenso wie den übrigen öffentlichen Sektor. Auf das Gesundheits- und Sozialwesen entfielen in den 1990er Jahren vier Fünftel des Beschäftigungswachstums des öffentlichen Sektors, in den ersten zehn Jahren des 21. Jahrhunderts drei Fünftel. Nur in den letzten fünf Jahren macht der private Sektor bessere Figur, hauptsächlich dank starken Zuwächsen in den Jahren 2006 bis 2008. Als Folge der einseitigen Entwicklung hat sich der Anteil des öffentlichen Sektors an der Beschäftigung um etwa 5 Prozentpunkte erhöht, von rund 18% im Jahre 1990 auf über 23% heute.

Die Zahlen finden ihre Bestätigung in den mit der Beschäftigungsstatistik nicht kompatiblen Angaben der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (Sake), die jeden zählt, der auch nur eine Stunde pro Woche arbeitet. Deshalb sind hier die absoluten Zahlen deutlich höher, aber die Grundaussage bleibt gleich, ja wird wegen der vielen Teilzeitstellen noch verstärkt: Es ist der Gesundheitssektor (wohlgemerkt ohne Pharma), auf den etwa die Hälfte des Beschäftigungszuwachses entfällt, bei den Frauen liegt dieser Anteil sogar weit über 50%.

Es scheint, dass das Beschäftigungswunder im Untersuchungszeitraum weniger Quelle als vielmehr Folge des Wohlstands war. Weil wir reich sind und immer reicher werden, geben wir Jahr für Jahr einen absolut höheren Betrag und einen ständig wachsenden Anteil unseres Volkseinkommens für Gesundheit (und Bildung) aus. Das schlägt sich in der Beschäftigung nieder. Dieses Beschäftigungswachstum findet vornehmlich in den urbanen Zentren statt und zieht Ärzte, Pflegepersonal, Professoren und Forscher aus dem Ausland an, weil die Schweiz nicht genügend Hochqualifizierte ausbilden kann und sich das schweizerische Arbeitsangebot etwa im Pflegebereich nicht auf die wachsende Nachfrage nach entsprechenden Leistungen ausrichtet.

Das «Jobwunder» steht auf wackligen Beinen. Es ist wenig marktgetrieben, denn die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen ist angesichts einer – noch dazu subventionierten – Versicherungsfinanzierung verzerrt und über Gebühr angeheizt. Abgesehen von einigen wenigen Jahren trifft die Diagnose einer Blase eher zu als die eines Wunders. Die Beschäftigung in der Schweiz wächst zwar rasch, aber einseitig und wenig nachhaltig.

Dieser Artikel erschien in der NZZ vom 30. April 2011