Nach dem Bergsturz im Walliser Dorf Blatten, bei dem 300 Menschen auf einen Schlag ihr Zuhause verloren, haben verschiedene Medien eine grundsätzliche Frage aufgeworfen: Ob und wie sollen gefährdete Regionen im Alpenraum langfristig besiedelt bleiben?
In diesem Zusammenhang wird auch Avenir Suisse regelmässig um eine Einordnung gebeten. Als Think-Tank sind wir dafür bekannt, auch bei sensiblen Themen nicht vor sachlichen, wenn auch mitunter unpopulären Analysen zurückzuschrecken. Die Differenziertheit, auf die man bei solchen Anfragen besonders achtet, kommt in der journalistischen Kürze aber zuweilen wortwörtlich zu kurz. Die Einschätzung von Avenir Suisse soll deshalb in diesem Text im nötigen Umfang dargelegt werden.
In den Bergen lauern Chancen und Risiken
Zuallererst einmal: Nein, Avenir Suisse will das Berggebiet nicht entvölkern. Und auch nicht einzelne Bergtäler. Nicht heute – und auch nicht vor 20 Jahren. Damals machte der Begriff «alpine Brache» die Runde. Er wurde vom ETH-Studio Basel geprägt, das damit übrigens nicht die Entleerung der Alpen vorschlug, sondern einen konstruktiveren Umgang mit möglichen Schrumpfungsprozessen anregte.
Bis heute haftet das Schlagwort – und seine Fehldeutung – auch Avenir Suisse an. In Wirklichkeit hat sich der Think-Tank wiederholt konstruktiv mit dem Potenzial des Alpenraums beschäftigt, unter anderem mit den Publikationen Strukturwandel im Berggebiet und Zentrumstäler. Die Herausforderungen des Alpenraums wird Avenir Suisse weiterhin sachlich und nüchtern analysieren.
Heute ist die Situation eine andere als 2005. Damals hatte die Schweiz ein Jahrzehnt schwachen Wachstums hinter sich. Das BFS-Bevölkerungsszenario ging davon aus, dass unser Land kaum je mehr als 8 Mio. Einwohner zählen würde. Heute sind wir schon bei über 9 Millionen. Auch im Alpenraum sind viele Siedlungen grösser und dichter geworden.
Zu diesen demografischen Veränderungen kommt der Klimawandel. Dieser erhöht die Naturgefahren in den Bergen – in gewissen Zonen wird der Aufenthalt zu gefährlich werden. Gleichzeitig steigern die höheren Temperaturen aber auch die Attraktivität der Alpen als Lebensraum: Viele Menschen wollen im Sommer der Hitze im Flachland entfliehen. Zudem eröffnet die Digitalisierung Möglichkeiten, ortsunabhängig zu arbeiten. Diese Faktoren machen das Berggebiet zukunftsfähiger als oft angenommen.
Blatten: Niemand entscheidet von oben herab
Was nun Blatten betrifft: Ob, wo und wie das Dorf wieder neu aufgebaut werden soll, diese Entscheidung liegt bei den direkt Betroffenen – bei Gemeinde und Kanton. Dabei sind selbstverständlich die Analysen diverser Naturraum-Experten gefordert: Geologen, Hydrologen, Glaziologen. Dass unmittelbar nach dieser Katastrophe der Tenor vorherrscht, das Dorf werde ganz sicher wieder aufgebaut, ist angesichts der – auch emotionalen – Wucht dieses Ereignisses verständlich.
Bei allen Wiederaufbauversprechen ist aber klar, dass die Betroffenen vorerst an einem neuen Ort leben werden müssen, denn obwohl Blatten nicht Rom ist, wurde und wird es nicht an einem Tag (wieder) erbaut. Es ist unklar, wie viele der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner von Blatten nach einigen Jahren, in denen sie sich an neuen Wohnorten eingelebt haben, wieder nach Neu-Blatten ziehen werden. Haben sich die Blattner an einem neuen Ort erst einmal eingelebt, könnten einige diesen als neue Heimat sehen und sogar bleiben wollen.
Föderalismus bewahren
Eine oft zitierte Aussage, die von Avenir Suisse kommt, bezieht sich derweil auf die föderalistische Aufgabenteilung: Während die unmittelbare Katastrophenbewältigung eine Verbundaufgabe von Bund, Kanton und Gemeinde ist, liegt die Verantwortung – auch die finanzielle – für einen allfälligen Wiederaufbau der lokalen Infrastruktur bei Kanton und Gemeinde, während die privaten Sachwerte weitgehend über die Gebäudeversicherung abgedeckt sind. Der Bund sollte hier also nicht in der Pflicht stehen – ganz im Sinne von Artikel 43a Absatz 1 der Bundesverfassung:
«Der Bund übernimmt nur die Aufgaben, welche die Kraft der Kantone übersteigen oder einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedürfen.»
Einer (schweizweit) einheitlichen Regelung bedarf der Wiederaufbau von Blatten nicht, und die Kraft des Kantons Wallis übersteigt er auch nicht. Der Bergkanton hat 370’000 Einwohner, jährlich kommen ungefähr 3000 dazu. Zu behaupten, das Wallis habe nicht die Mittel und Fähigkeit, eine kommunale Infrastruktur für 300 Personen aufzubauen, könnte schon fast als Affront gegenüber dem Kanton ausgelegt werden.
Die strikte Haltung von Avenir Suisse in Bezug auf föderalistische Grundprinzipien richtet sich im Übrigen keineswegs spezifisch gegen Berggebiete, sondern ist grundsätzlicher Natur: Der schweizerische Föderalismus baut auf den beiden Kernprinzipien Subsidiarität und fiskalische Äquivalenz auf. Erstere ist durch den zitierten Absatz 1 in Art. 43a umschrieben, zweitere in den folgenden Absätzen 2 und 3:
- Das Gemeinwesen, in dem der Nutzen einer staatlichen Leistung anfällt, trägt deren Kosten.
- Das Gemeinwesen, das die Kosten einer staatlichen Leistung trägt, kann über diese Leistung bestimmen.
Vor diesem Hintergrund hat der Think-Tank beispielsweise auch wiederholt die Agglomerationsprogramme kritisiert. In deren Rahmen schickt der Bund jährlich 400 Mio. Fr. in die Zentren, damit diese Fussgängerunterführungen und Veloständer bauen können. Sehr fragwürdig ist etwa die Mitfinanzierung der Glatttalbahn in der Zürcher Agglomeration durch den Bund.
Das Buhlen um Geld
Regionale Politiker haben seit jeher ein Interesse daran, ihre Region mit Bundesgeldern zu unterstützen. Das gilt für das Glatttal ebenso wie für das Lötschental. Bei letzterem will derzeit kaum jemand kleinlich auf föderale Grundprinzipien pochen, denn wer sich kritisch äussert, gilt schnell als unsolidarisch. Dabei hat dieses Beharren auf die Einhaltung föderaler Prinzipien nichts mit mangelnder Solidarität zu tun.
Solidarität ist zentral, gerade bei einer Naturkatastrophe wie jener im Wallis. Die Schweiz zeigt sich sehr wohl und zu Recht solidarisch mit Blatten. Sowohl auf der höchsten Ebene: Der Bund bei der unmittelbaren Krisenbewältigung im Rahmen des Katastrophenschutzes. Als auch auf der untersten Ebene: Bei der Glückskette sind innerhalb von zwei Wochen 17 Mio. Fr. Spendenversprechen eingegangen. Und auch der Kanton hat schon 10 Mio. Fr. für Sofortmassnahmen zu Gunsten der Bewohnerinnen und Bewohner zugesichert.
Institutionell über den Finanzausgleich
Sollte sich langfristig zeigen, dass der Schutz vor Naturgefahren oder die Instandstellung zerstörter Infrastruktur die Bergkantone im Allgemeinen über Gebühr belastet, gibt es durchaus institutionelle Stellschrauben. Statt eine erhöhte finanzielle Unterstützung des Bundes auf projektbezogener Basis zu fordern, müsste man sich dann Gedanken über eine Erhöhung des geografisch-topografischen Finanzausgleichs machen. Dieser ist heute auf knapp 400 Mio. Fr. jährlich dotiert und bemisst sich an Faktoren wie durchschnittlicher Siedlungshöhe oder der Steilheit des Geländes – er kommt somit hauptsächlich Bergkantonen zugute. Dieses Instrument schafft institutionalisierte Solidarität mit den Berggebieten, ohne falsche Anreize im bewährten Schweizer Föderalismus zu setzen.
Die Schweiz hat über Jahrzehnte gezeigt, dass sich auch in anspruchsvollem Gelände lebenswerte Räume schaffen lassen. Dabei kamen die Impulse stets von unten. Das gilt auch für den Alpenraum. Dessen Nutzung ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern Teil einer vielfältigen Raumentwicklung.
Diese Raumentwicklung gilt es über die kommenden Jahre weiterzuführen. Bei den Schweizer Bergtälern heisst das insbesondere, die derzeitigen demografischen, technologischen und klimatologischen Entwicklungen realistisch und verantwortungsvoll zu berücksichtigen. Ein solcher Realismus bedeutet, schwierigen Fragen nicht auszuweichen. Wo Risiken zunehmen, braucht es sorgfältig abgewogene Entscheidungen. Und dafür braucht es eine Politik, die auf Anteilnahme und Solidarität setzt, ohne dabei bewährte Schweizer Prinzipien wie Subsidiarität und lokale Handlungsfähigkeit preiszugeben.