Bis 2050 will der Bundesrat, angeführt von Energieministerin Doris Leuthard, die Energieversorgung des Landes komplett umbauen. Erneuerbar statt atomar, lautet die Devise. Mit Effizienz und Sanierungsschüben soll der Energieverbrauch bis 2035 um 35 Prozent gesenkt werden. Die Stromlücke, die nach der Abschaltung der fünf AKW trotz aller Sparbemühungen bleibt, sollen erneuerbare Energieträger decken. Urs Meister, Energiespezialist bei Avenir Suisse, sieht im langen Zeithorizont eine grosse Schwäche in der bundesrätlichen Strategie. Skeptisch steht er auch der «Subventionitis»-Welle gegenüber.

Thomas Wehrli: Herr Meister, eineinhalb Jahre nach der Ankündigung, die Schweiz steige aus der Atomenergie aus, hat Bundesrätin Doris Leuthard Ende letzter Woche erste Details präsentiert. Konnte sie den Schleier, der bislang über der Energiewende lag, lüften?

Urs Meister: Nur bedingt. Die Vernehmlassungsunterlagen zeigen zwar im Detail auf, mit welchen Massnahmen der Bundesrat den ersten Teil der Wende schaffen will. Doch die wirklich einschneidenden Massnahmen wie eine allfällige ökologische Steuerreform sind nicht dabei. Diese Schritte hat der Bundesrat bewusst auf die Phase nach 2020 verschoben.

Taktieren ist Teil des politischen Spiels.

Natürlich. Das scheibchenweise Vorgehen erhöht die Chancen, das erste Massnahmenpaket unbeschadet durch den politischen Prozess zu bringen. Indem man die weniger einschneidenden Massnahmen auf der Zeitachse nach hinten schiebt, gewinnt man Zeit. Das ist nicht nur politisch rational, es macht im Grunde auch ökonomisch Sinn, denn Technologien und Märkte werden sich weiterentwickeln. Überstürzte Entscheide sind heute weder sinnvoll noch nötig.

Dann braucht es nach 2020 vielleicht gar kein zweites Massnahmenpaket?

Das ist theoretisch möglich. Denn heute kann niemand sagen, wo wir in zehn Jahren technologisch stehen. Vielleicht kann umweltverträgliche Energie dann so günstig produziert werden, dass wir uns nicht mehr einschränken müssen. Der lange Zeithorizont, den der Bundesrat abdecken will, ist für mich auch eine der grossen Schwächen der Strategie.

Eine zweite Schwäche: Mit dem vorliegenden Paket können die Energieziele erst zur Hälfte erreicht werden.

Politisch hat es sich der Bundesrat wohl etwas einfach gemacht. Einen Teil der Verantwortung verschiebt er in die Zukunft, einen anderen Teil delegiert er an die Kantone. Sie müssen beispielsweise die konkreten Standorte für den Bau von Windkraft- und anderen Anlagen ausscheiden.

Frei nach dem Motto: Den Letzten beissen die Bürger…

Der Bund schiebt in der Tat heikle Entscheidungen an die Kantone weiter. Allerdings liegen diese raumplanerischen Kompetenzen wohl mehrheitlich auch auf kantonaler Ebene.

Viele Kantone sind nicht nur Bewilligungsbehörde, sondern auch an Stromunternehmen beteiligt. Um bei den Sprichwörtern zu bleiben: Man beisst nicht in die Hand, die einen füttert.

Die Doppelrolle der Kantone halte ich in der Tat für problematisch. Interessenkonflikte sind vorprogrammiert.

Vorprogrammiert ist auch die Jagd auf Fördergelder.

Das ist leider so. Das Massnahmenpaket fokussiert stark auf die Subventionierung von erneuerbaren Energien und Energieeffizienz. Das ist ineffizient und hier braucht es Korrekturen.

Wo muss justiert werden?

Viele Subventionen im Gebäudebereich dürften unnötig sein, da der Markt künftig genügend Anreize für Sanierungen geben kann. Daneben ist das Instrument der kostendeckenden Einspeisevergütung teuer und ineffizient. Zumindest hält man an der Deckelung bei der Fotovoltaik fest. Positiv ist auch das vorgeschlagene System von Auktionen.

Kleine Fotovoltaikan lagen erhalten künftig keine Einspeisevergütung mehr, sondern eine einmalige Investitionshilfe. Der richtige Weg?

Die Einmalzahlung ist transparenter. Das ist positiv. Umgekehrt wird eine Eigenverbrauchsregel eingeführt: Der produzierte Strom wird an den Eigenverbrauch angerechnet. Dabei besteht meines Erachtens die Gefahr, dass ein Teil der Subventionen versteckt über den Netztarif erfolgt.

Der Bundesrat will den Energieverbrauch bis 2035 um 35 Prozent senken. Das geht bei allem technologischen Fortschritt nicht ohne Einschränkungen. Ist der Schweizer dazu bereit?

Bis 2020 soll ein Grossteil über Normen bei Geräten, Gebäuden und Fahrzeugen erreicht werden. Diese treffen die Verbraucher tendenziell noch nicht so stark. Voraussichtlich reichen diese aber nicht zur Zielerreichung. Viel einschneidender dürften allfällige Lenkungsabgaben sein, die nach 2020 eingeführt werden. Wie stark solche belasten, hängt dann auch vom Rückvergütungssystem ab.

Die Nase rümpfen die Stromkonzerne ob der «weissen Zertifikate», die der Bundesrat einführen will. Die Konzerne müssen dafür sorgen, dass ihre Kunden Strom sparen. Tun sie es nicht, müssen sie zahlen. Das ist nicht gerade ein Ausbund an liberalem Gedankengut.

Nein, vor allem in einem erst halb geöffneten Markt nicht. Hier kann das Instrument nicht effizient sein, denn die Kunden haben keine Wahlfreiheit.

Die Lösung ist eine komplette Öffnung des Marktes. Kommt die vollständige Liberalisierung, wie vorgesehen, 2015?

Machbar ist sie auf diesen Zeitpunkt hin, problemlos sogar. Die Frage ist eine andere: Ist der politische Wille für diesen Schritt derzeit vorhanden? Im Moment habe ich Zweifel daran, denn jetzt steht die Energiewende zuoberst auf der politischen Agenda.

Mit der Energiewende bekommen die grossen Stromkonzerne Konkurrenz. Doris Leuthard spricht von «vielen kleinen Strombaronen», die künftig mitmischen werden. Verderben zu viele Köche den Konzernen nicht das Energiemenü?

Die grossen Konzerne werden ihre zentrale Rolle als Produzenten und Händler behalten. Ohne Grosskraftwerke wird es auch in Zukunft nicht gehen. Klar ist aber auch: Strom wird künftig vermehrt dezentral produziert sei dies vom Endkonsument, sei dies von Stadtwerken und anderen kleinen Anbietern. Die Konkurrenz nimmt dadurch zu.

Ist die Schweiz also auf dem Weg ins Strom-Réduit?

Sicher nicht. Eine Selbstversorgung bei der Stromversorgung wird es nie geben. Das ist heute ebenfalls nicht der Fall. Die Schweiz importiert und exportiert pro Jahr mehr Strom als sie produziert. Für ein kleines Land wie die Schweiz ist es wichtig, am internationalen Strommarkt angebunden zu sein. Eine autarke Stromversorgung, also eine völlige Insellösung, wäre nicht nur ineffizient, sondern eine eigentliche Bedrohung für die Versorgungssicherheit. Gerade auch Grosstechnologien brauchen den internationalen Handel.

Gaskombikraftwerke, eine dieser Grosstechnologien, galten lange als unverzichtbar für die Energiewende. Nun hört man kaum mehr etwas davon. Braucht es sie nicht mehr?

Ob Gaskraftwerke in der Schweiz gebaut werden, hängt von zwei Parametern ab. Erstens stellt sich die Frage, ob der Markt ausreichend Investitionsanreize für neue Kraftwerke gibt. Im Moment ist der europäische Markt angespannt, die Preise sind tief, und damit auch die Investitionsanreize. Zweitens könnten Gaskraftwerke aus Gründen der Systemstabilität punktuell nötig werden, wenn die Atomkraftwerke vom Netz gehen. Das hat aber nichts mit Autarkie zu tun.

Die Alternative ist, den fehlenden Strom zu importieren. Die bessere Wahl?

Das wird letztlich der Markt entscheiden. Fakt ist, dass wir heute in Europa eher zu viele Kraftwerke haben. Sie produzieren viel und vor allem viel günstigen Strom. Ökonomisch kann es durchaus sinnvoll sein, wenn wir mehr Strom importieren statt neue Gaskombikraftwerke zu bauen.

Sie sagen, der Strom bleibt billig. Der Bundesrat geht in seiner Vorlage jedoch davon aus, dass die Haushalte 20 bis 30 Prozent mehr für den Strom berappen müssen. Was stimmt nun?

Beides. Es gibt heute kaum Anzeichen dafür, dass die Preise auf dem europäischen Strommarkt in absehbarer Zeit massiv höher sein werden. In der Strategie des Bundesrates werden die Preise vor allem wegen der wachsenden Netzzuschläge steigen, etwa zur Finanzierung der kostendeckenden Einspeisevergütung. Damit verbunden sind entsprechende Belastungen für Haushalte und Betriebe.

Dem will der Bundesrat vorbeugen: Energieintensive Betriebe müssen die Zuschläge nicht bezahlen.

Das stimmt, schliesslich sollen die Unternehmen im internationalen Kontext konkurrenzfähig bleiben. Allerdings ist dies ordnungs- und verteilungspolitisch kritisch. Denn die Kosten der Energiewende tragen dann vor allem die kleinen Energieverbraucher, etwa die Haushalte. Wie hoch ihr Beitrag ist, hängt letztlich von der Grösse der Subventionstöpfe ab. Ich halte dieses Vorgehen für doppelt problematisch. Zum einen ist das Stromsparpotenzial der Haushalte eher klein. Zum anderen treffen höhere Strompreise einkommensschwächere Haushalte härter als andere.

Da bleibt nur ein Weg: Die Subventionstöpfe möglichst klein zu halten.

Richtig. Die Wirksamkeit vieler Subventionsinstrumente muss ohnehin infrage gestellt werden. Häufig sind sie nicht nur ineffizient, sondern auch überflüssig. Man nimmt die Subvention mit und realisiert damit etwas, das man auch sonst gemacht hätte. Das braucht es nicht.

Der Bundesrat beziffert die Kosten der Energiewende auf 30 Milliarden Franken, die Strombranche auf 150 Milliarden. Dazwischen liegen Welten.

Der grosse Unterschied kommt offenbar daher, dass die Kosten für die Erneuerung der Infrastruktur ungleich berücksichtigt werden. Doch die Differenz ist nicht zentral. Ohnehin sind solche Berechnungen wenig aussagekräftig. Es ist nicht seriös, derart detaillierte Kosten- und Preisprognosen über 20, 30 oder noch mehr Jahre zu machen. Man gaukelt den Leuten eine Planungssicherheit vor, die man schlicht nicht haben kann. Bis 2035 kann viel passieren.

Um bei den grossen Zahlen zu bleiben: Doris Leuthard rechnet gerne vor, dass die atomare Zukunft nicht günstiger zu haben sei als die Energiewende; drei neue Atomkraftwerke würden ebenfalls rund 30 Milliarden Franken kosten. Hinkt der Vergleich nicht?

Doch, man kann eine Investition im freien Markt nicht direkt mit der Höhe von Subventionen und Abgaben vergleichen. Wenn ein Konzern ein neues Kernkraftwerk baut, ist das sein Entscheid. Er muss wissen, ob sich diese Investition lohnt oder nicht. Auf der Basis der heutigen Strommarktpreise könnte ein neues Atomkraftwerk wohl nicht wirtschaftlich betrieben werden und wäre für die Konzerne keine rentable Option.

In England funktioniert es aber auch.

Dort ist allerdings eine Subventionierung der Kernkraftwerke vorgesehen. Wollte man in der Schweiz unbedingt neue Kernkraftwerke bauen, müsste man womöglich auch über solche Subventionen diskutieren.

Verschiedene Organisationen und Parteien, darunter die SVP, wollen genau dies: Die Wende der Wende, also ein Zurück in die Atomzukunft. Hat diese Bewegung eine Chance?

Ich habe Zweifel. Erstens fehlen im Moment die marktlichen Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Betrieb. Zweitens dürfte es schwierig sein, eine Mehrheit in der Bevölkerung zu finden. Vielleicht ändern sich beide Aspekte, wenn eine neue, sicherere und effizientere Generation Kernkraftwerke verfügbar sein wird.

Die Energiestrategie will den Energieverbrauch von der Wirtschaftsleistung entkoppeln. Der Verbrauch soll auf den Stand der 1970er-Jahre zurückgefahren, die Wirtschaftsleistung hingegen verdreifacht werden. Ein Widerspruch?

Eine derart drastische Entkoppelung ist unrealistisch. Allerdings zeigen die Zahlen der letzten 20 Jahre, dass das Wachstum des Energieverbrauchs nicht mehr ganz so eng mit dem Wirtschaftswachstum zusammenhängt. Das ist ein Hinweis auf die gestiegene Energieeffizienz. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen, allerdings weniger stark als hier angenommen.

Was passiert, wenn wir die Vorgaben nicht erreichen?

Nicht viel. Dann importieren wir eben mehr Strom.

Oder wir lassen unsere Windparks auf Hochtouren laufen. Wie realistisch sind die Ausbaupläne des Bundesrates bei den erneuerbaren Energien?

Mindestens theoretisch sind sie umsetzbar. Die Frage ist aber: Ist es sinnvoll, diese Technologien derart stark zu subventionieren? In der Schweiz ist das Potenzial gerade bei den attraktiven Technologien, vor allem der Windkraft, relativ gering. Die standortspezifischen Kosten sind zudem hoch. Ist eine Form der Förderung politischer Konsens, dann müsste diese wenigstens effizient erfolgen, also nicht technologiespezifisch und nicht auf den Ausbau im Inland fokussiert.

Das heisst?

Wenn wir die Windkraft fördern wollen, und danach sieht es heute aus, sollten wir dies standortunabhängig tun. Investitionen zahlen sich beispielsweise bei grossen Offshore- Windparks aus.

Die Landschaftsschützer werden Ihnen dankbar sein. Sie fürchten, dass die Natur auf der Energie-Strecke bleibt.

Es wird garantiert zu Zielkonflikten kommen und man muss bei jedem Projekt eine Kosten-Nutzen-Rechnung machen: Holt man so viel Energie heraus, dass sich der Eingriff lohnt? Ich bezweifle es.

Dieser Artikel erschien in der «Basler Zeitung» vom 4.Oktober 2012.