Dank Freiheit und Marktwirtschaft geniessen heute weltweit Milliarden von Menschen einen Wohlstand, wie es ihn noch nie in der Geschichte gab. Aber ausgerechnet in den Ländern des Westens, die sich schon mehr als ein halbes Jahrhundert ihres Reichtums erfreuen, zweifeln immer mehr Menschen an der freiheitlich-marktwirtschaftlichen Ordnung. Denn sie hat ein problematisches Defizit: Sie kann aus sich heraus nicht die Werte schaffen, die für ihren Erfolg so wichtig sind.
Brauchen gerade freiheitliche Gesellschaften einen Konsens über einige zentrale, alles zusammenhaltende Werte? Wie entstehen diese? Und wie lassen sie sich verteidigen? Zu diesen Fragen veranstalteten Avenir Suisse und das Institut der deutschen Wirtschaft Köln letztes Jahr Tagungen in Berlin und Zürich. Die Beiträge kamen vor einem halben Jahr im Band «Der Wert der Werte» (NZZ Libro) heraus. Die Fragen, die das Buch aufwirft, geben offensichtlich vielen zu denken, denn es liegt jetzt bereits in der zweiten Auflage vor.
Weshalb sollen gerade Liberale den Wert der Werte betonen? Es gibt dafür drei gute Gründe.
Der taktische Grund: Konservative wie Sozialisten sind in hohem Masse Moralisten. Sie meinen zu wissen, was gut und richtig ist, und sie wollen auch die anderen Menschen dazu bringen notfalls mit Zwang, die gleichen Werte zu vertreten wie sie. Die Liberalen dagegen vertreten eine Weltanschauung der Regeln, in Wirtschaft und Politik. Blutleere Regeln, von denen niemand weiss, zu welchen Ergebnissen sie führen, können aber kaum einen Menschen begeistern. Wenn Liberale politisch Erfolg haben wollen, dürfen sie sich nicht auf die rationale Analyse beschränken, sondern müssen eine zeitgemässe liberale Vision anbieten, die neben dem Kopf auch das Herz anspricht.
Der moralische Grund: «Freiheit wovon? », ist die primäre Frage der Liberalen die meisten Menschen, vom Religiösen bis zum Agnostiker, fragen aber nach der «Freiheit wozu?». Deshalb muss diese Frage die Liberalen ebenfalls umtreiben, auch wenn nach ihrer Auffassung natürlich explizit nicht alle nach der gleichen Façon glücklich und selig werden können und sollen. Sie müssen klarmachen, dass Freiheit die Grundvoraussetzung für moralisches Handeln ist: Nur Handeln in Freiheit kann moralisches Handeln sein.
Und schliesslich der freiheitssichernde Grund: Zwang und Moral sind gewissermassen kommunizierende Röhren. Je mehr sich die Menschen an allgemein anerkannte Regeln halten, umso weniger braucht es formale Regeln und umso weniger laut ertönt der Ruf nach staatlichen Gesetzen und Sanktionen. Wo die Selbstdisziplin der Marktteilnehmer fehlt, wird in Demokratien der Staat einspringen und mit Regulierungen aller Art erzwingen, was nach den Vorstellungen einer Mehrheit als Wohlverhalten gilt.
Jenen, die für eine freie Ordnung eintreten, steht es deshalb gut an, sich nicht nur für liberale Spielregeln einzusetzen und gleichzeitig die moralischen Werte des Zusammenlebens zu vernachlässigen, sondern im Gegenteil von den Führungskräften in Gesellschaft und Wirtschaft ganz altmodisch Tugendhaftigkeit einzufordern.
Dieser Artikel erschien im Magazin «Cigar» vom 16. Juni 2012.