In Diskussionen über Politik und Wirtschaft muss man in der Regel nie lange warten, bis die Medien als eine der Ursachen so vieler Übel dieser Welt herhalten müssen. Sie bauschen auf und verzerren, bieten intellektuellen Schrott und Belangloses, tragen zu Verrohung und ethischer Verwahrlosung bei, schreiben Falsches oder gar Unwahres, sind entweder zu unkritisch oder richten umgekehrt mit ihrer Berichterstattung grossen Schaden an, sind inkompetent, ideologisch und nehmen ihre Verantwortung als vierte Gewalt nicht wahr.

Sündenböcke

In der Wirtschaftskrise gelten die Vorwürfe besonders den Wirtschaftsjournalisten. Haben Sie versagt? Ist die Wirtschaftskrise auch eine Wirtschaftsjournalismus-Krise? Die Antwort kann, wenn sie nicht populistisch vereinfacht ausfallen soll, nur ein klares Jein sein. Natürlich gibt es viel schlechten und verantwortungslosen Journalismus. Viele Journalisten jagen über weite Strecken nur nach Quoten, ohne jeglichen aufklärerischen Impetus, denn die Nachfrage nach Aufklärung, nach differenzierter Analyse, nach einer Diagnose, die der Komplexität der Sache gerecht wird, ist nicht gross. Einfache Ursachenanalyse, simple Rezepte, die Jagd nach Sündenböcken – das ist erstens leichter, und damit kann man sich, zweitens, eher profilieren.

Dazu kommt, dass Journalisten mit dem klassischen Kritiker-Syndrom geschlagen sind. Nur in seltenen Fällen wissen sie es besser als jene, die sie kritisch begleiten. Wie sollten sie auch? Sie sind schlecht bezahlte Generalisten, ihre Gegenüber spezialisierte Kenner, die mit einem Heer von Kommunikationsbeauftragten bewehrt sind. Das hat sich verschärft, seit das Mediengeschäft nicht mehr so floriert wie früher. Es gibt heute weniger Zeit für vertiefende Recherche, für das informierte Gespräch mit den Experten und vor allem für das selbständige Nachdenken. Der Blick auf Bloomberg-Bildschirme und das Zitieren von Marktteilnehmern genügen nicht, um einen Beitrag zum Verstehen schwieriger Zusammenhänge zu leisten.

Trendsetter

Schliesslich ist der wichtigste Grund, warum Krisen immer auch Krisen des Journalismus sind, dass die Medien nur ein Spiegel gesamtgesellschaftlicher Strömungen sind. Sie stehen nicht über den Dingen, sie sind Teil von Trends. Sie machen jeden Hype mit. Deswegen folgte in den europäischen Medien – mit nationalen Nuancen – auf die Euro-Euphorie der Euro-Kater, auf die Angst vor dem Waldsterben jene vor der Klimaerwärmung und nun vermehrt vor der Kernenergie, deswegen werden alle Epidemien von der Vogel- bis zur Schweinegrippe bis zur Hysterie hochgespielt. Das gilt analog auch für den Wirtschafts- und Finanzjournalismus. Wenn Risikomanager der grössten Banken der Welt, Notenbanker, Regulatoren, Aufseher, Ratingagenturen, Wirtschaftsprüfer und Finanzministerien weder die Immobilienkrise, noch die Bankenkrise, noch die Finanzkrise, noch die Schuldenkrise haben kommen sehen, weswegen hätten sie dann die Journalisten kommen sehen sollen? Die sarkastische Bemerkung des britischen Bankers Charles Morris, Intellektuelle seien die besten Spätindikatoren einer Krise, kann man auch auf die Wirtschaftsjournalisten anwenden. Wäre es anders, wären viele Journalisten längst reich.

Natürlich gab es unter den Journalisten wie unter den Experten vereinzelt Mahner, die nun Recht bekommen haben. Aber dem liegt nicht eine Art strukturelle Weisheit zugrunde, nichts, aus dem man für die nächste Krise lernen könnte. Unter den „Weitsichtigen“ befinden sich notorische Pessimisten, „contrarians“, die aus Prinzip gegen den Strom schwimmen, Journalisten, die aus Zufall das Richtige geschrieben haben und solche, die der für diese Konstellation richtigen Theorie gefolgt sind. Gemäss Dean Starkman sind in neun wichtigen Wirtschaftsmedien der USA zwischen 2000 und 2007 zwar 730 Beiträge erschienen, die vor der Krise gewarnt haben, aber damit waren die skeptischen Stimmen vernachlässigbar, denn allein das Wall Street Journal hat in dieser Zeit rund 220 000 Artikel veröffentlicht.

Herdentrieb

Die Journalisten sind Teil der Herde, aber sie überzeichnen meist noch etwas und wirken  „prozyklisch“. Skepsis aus Prinzip bietet keine Remedur, denn man liegt damit ebenso oft falsch, wie wenn man dem Herdentrieb folgt. Der Herdentrieb hat dazu geführt, dass das Gros der Journalisten zunächst der New-Economy-Euphorie aufsass, die so etwas wie ein Vorbote der grossen Krise war, dass es die lockere Geldpolitik eines Alan Greenspan ohne grosses Murren hinnahm, dass es die Krise zu spät erkannte, dass es die unkonventionellen Massnahmen zur Krisenbekämpfung zu wenig kritisch hinterfragte und dass es nun in den grossen Chor der Kapitalismus-Schelte und der keynesianischen Staatsgläubigkeit einstimmt.

Einige Besonderheiten des Wirtschaftsjournalismus kommen dazu. So ist sich die Zunft der Ökonomen in seltenen Fällen einig. Es gibt weniger eindeutige Paradigmen als in anderen Wissenschaften. Somit können sich Journalisten nur schwer Rat holen. Sie sollten selber genug wissen. Ausserdem ist die symbiotische Beziehung zwischen ihnen und ihren Quellen wohl noch heikler als in anderen Bereichen des Journalismus. Das Feld ist voller Fallstricke. Das erschwert es den Journalisten, alles, was sie wissen, zu schreiben und alle Informationen angriffig zu durchleuchten. Will man eine langfristige Informationsbeziehung aufbauen, muss man gelegentlich zurückhaltend sein. Diskretionsversprechen muss man ohnehin einhalten. Tut man das nicht, wird man vielleicht einen Scoop landen, aber sich auf Dauer diese eine und manche andere Quelle verschütten. Damit schadet man sich selbst, aber auch der Aufgabe der Informationsvermittlung – wenn man sie unter einer längerfristigen Perspektive sieht.

Staatspolitische Bedenken

Verwandt damit ist, dass Journalisten, die ihre Verantwortung umfassend verstehen, also auch staatspolitisch, nicht immer schreiben können, was sie wissen oder denken. Würden sie es tun, könnten sie unbeabsichtigt im Sinne der self-fulfilling prophecy massenpsychologische Entwicklungen herbeischreiben (etwa eine Rezession) und sie könnten ganze Lawinen auslösen. So könnten sie etwa bei einer Bank, die auf des Messers Schneide steht, mit einer durchaus zutreffenden negativen Nachricht einen Bank-Run bewirken. Sollen Journalisten solche Arten von Information trotzdem verbreiten? Das will von Fall zu Fall behutsam abgewogen werden. Klar ist nur, dass nicht das Prinzip der Herstellung von Transparenz allein journalistisches Wirken leiten darf. Nicht alles ist relevant, nicht alles gehört an die Öffentlichkeit, und eben – nicht alles darf an die Öffentlichkeit. Das hat ohne Zweifel auch während der Bewältigung der Krise eine Rolle gespielt, in der Schweiz und anderswo.

Wer meint, die Wirtschaftskrise sei auch eine Krise des Wirtschaftsjournalismus, denn die Journalisten hätten es kommen sehen müssen, überschätzt schlicht, was selbst beste Journalisten leisten können. Sie sind höchstens gut im Deuten, im Erklären, manchmal in der interdisziplinären Gesamtschau, aber nicht im Vorhersagen. Die Krise hat das deutlich gemacht. Sie hat zudem gezeigt, wie wichtig Wettbewerb ist, Wettbewerb der Meinungen wie Wettbewerb der Medienunternehmen. Leider führt Wettbewerb oft zu Einheitsbrei, wenn sich Journalisten und Verlage zu sehr gegenseitig kopieren. Dennoch ist er die einzige Chance für Vielfalt und somit für den sprichwörtlichen Rufer in der Wüste – und dass doch da und dort so etwas wie Früherkennung stattfinden kann, und sei es in homöopathischen Dosen.

Dieser Artikel erschien am 5. Januar 2011 im «Schweizer Journalist».