Der Mittelstand wird in der Regel über das Einkommen von der Ober- und Unterschicht abgegrenzt und umfasst nach der gängigsten Definition die mittleren 60% der Einkommensverteilung. Eine so eindimensionale Betrachtung wird jedoch der Vielschichtigkeit dieser grossen Bevölkerungsgruppe nicht gerecht – schliesslich geht es um fast zwei Drittel der Gesellschaft. Der Mittelstand definiert sich nicht nur über sein Einkommen, sondern auch über die familiären und beruflichen Lebensumstände. Zudem besteht der Mittelstand nicht nur aus einzelnen Haushalten, sondern gliedert sich in soziale Milieus.
Das aus der Immobilienmarktforschung stammende Modell der «Nachfragersegmente» ermöglicht eine differenzierte Analyse der Mittelstandsmilieus und ihrem Wandel im Zeitverlauf. In diesem Modell werden Haushalte auf Basis zahlreicher Indikatoren entlang zweier Dimensionen in neun gesellschaftliche Milieus unterteilt (s. Abb.). Die erste Dimension ist die soziale Schichtung, die sich aus Einkommen, Bildung und Beruf abgeleitet wird (vertikal). Die zweite ist der Lebensstil, der sich aus Indikatoren zur familiären Situation und Wertehaltung ergibt (horizontal).
Das Modell der Nachfragersegmente unterscheidet drei Mittelstandsmilieus: (1) Den Klassischen Mittelstand mit einem bürgerlichen Lebensstil und traditionellen Rollenverteilung innerhalb der Familie. (2) Die Etablierte Alternative mit häufig akademischer Ausbildung und stark urban-individualisiertem Lebensstil. (3) Die Aufgeschlossene Mitte, die sich zwar etwas vom taditionell- bürgerlichen Lebensstil des klassischen Mittelstands gelöst hat, aber nicht so stark wie die Etablierte Alternative. Zwischen diesen Milieus gab es in den letzten zwei Dekaden starke Verschiebungen, die den gesellschaftlichen Wandel spiegeln.
Gemäss dieser Definition ist der Anteil des Mittelstands an der Schweizer Bevölkerung 1990-2010 von 65,1% auf 67,6% leicht gewachsen. Wachsender Wohlstand und bessere Bildung zeigen sich darin, dass 4,8% der Bevölkerung in die Oberschicht aufstiegen, während 7,3% der Aufstieg aus der Unterschicht in den Mittelstand gelang. Gleichzeitig kam es zu einer starken Individualisierung der Gesellschaft, die zu einer Verschiebung zwischen den Milieus führte. So nahm 1990-2010 der Anteil des Klassischen Mittelstands von 22 auf 12 % ab.
In den letzten 20 Jahren hat die Region Zürich eine Aufwertung erfahren. Dabei sind die Anteile der Oberschicht von 12% auf 19% vor allem auf Kosten der Unterschicht 7.: deutlich gestiegen. Mittelstand und Unterschicht wohnen im Grossraum Zürich in ähnlichen Regionen in relativ klarer Trennung zur Oberschicht. Die räumliche Segregation ist deutlich geringer als in anderen Metropolitanregionen der Schweiz. Die zentrumsnahen Seegemeinden sind als Wohnorte besonders gefragt. Sie sind die traditionellen Oberschichtsregionen und die Immobilienpreise sind hier entsprechend hoch. An diesen Lagen sind die Oberschichtsanteile in den letzten Jahren stark gestiegen und die Mittelstandsanteile gesunken.
Während die Oberschicht 1990 noch relativ konzentriert an den attraktiven Lagen wohnte, hat sie sich zwischen 1990 und 2010 stärker in der Agglomeration ausgebreitet. Mit knapp 16% lag der Anteil der Unterschicht in der Agglomeration Zürich 2010 weit unter dem Landesdurchschnitt. Die höchsten Unterschichtsanteile von 15% bis 20% erreichen die lärmbelasteten Flughafengemeinden und jene im Limmattal. Dort sind auch die Anteile statustiefer Ausländergruppen und die Sozialhilfequoten am höchsten. Eine Verdrängung des Mittelstands aus der Kernstadt lässt sich in den Daten nicht ablesen, sein Anteil bleibt selbst in der Stadt Zürich konstant.
Dieser Artikel erschien in der Zürcher Wirtschaft vom Januar 2013. Zum gleichen Thema erschienen in der Zürcher Wirtschaft folgende Artikel: «Gefühlslage hat realen Hintergrund» «Bildungspolitik ist Mittelstandspolitik»