Verteilungsfragen geniessen nicht erst seit Thomas Pikettys Bestseller über den Kapitalismus im 21. Jahrhundert grosses Interesse. Bereits in den 1950er Jahren untersuchte Simon Kuznets die Beziehung zwischen dem Entwicklungsstand eines Landes und der Einkommensverteilung. Er kam zum Ergebnis, dass die Ungleichheit mit zunehmendem Wohlstand grösser werde, sich dann aber wieder reduziere. Kuznets war von grosser intellektueller Bescheidenheit geprägt, indem er meinte, seine Arbeit setze sich aus 5% empirischer Information und 95% Spekulation zusammen. Piketty tritt offensiver auf, obwohl sich an der Ausgangslage wenig geändert hat.
Richtige Intuition
Alle Debatten über die Verteilung sind nämlich davon überschattet, dass man sich über die Definitionen nicht einig werden kann und will. Das gilt auch für die Vermögensverteilung, die bei Piketty im Zentrum steht. Die wirtschaftspolitische Grafik zeigt die Gini-Koeffizienten der Nettovermögen der Privathaushalte ausgewählter EU-Länder und der Schweiz. Der Gini-Koeffizient ist das gängige Mass der Ungleichheit einer Verteilung. Ein Wert von 0 bedeutet völlige Gleichmässigkeit, ein Wert von 1 bedeutet, dass einer einzigen Person alles gehört – also totale Ungleichheit. Unter Nettovermögen werden hier das Sachvermögen (Immobilien, Wertgegenstände, Fahrzeuge) sowie das Finanzvermögen (Wertschriften, freiwillige Vorsorge, weiteres Finanzvermögen, Unternehmensbeteiligungen) abzüglich Schulden verstanden.
Würde man dem «Household Finance and Consumption Survey» 2013 der Europäischen Zentralbank (EZB) glauben, wäre Ungleichverteilung von Vermögen in Deutschland und Österreich mit je 0,76 sehr hoch – am höchsten wäre sie aber (gemäss nicht völlig vergleichbaren Angaben der Eidgenössischen Steuerverwaltung) mit 0,85 in der Schweiz. In einzelnen Kantonen liegt der Wert noch höher, mit Basel-Stadt und Genf (0,91) als Spitzenreitern.
Frankreich entspricht mit 0,68 dem Durchschnitt der EU-15. Südeuropa weist tendenziell eine gleichmässigere Verteilung auf (Italien 0,61, Spanien 0,58, Griechenland 0,56). Am geringsten sind die Unterschiede in den einst kommunistischen Staaten Slowenien und Slowakei. Die meisten dieser Ergebnisse sind kontraintuitiv – und für einmal liegt die Intuition richtiger als die Statistik. So hat das schlechte Abschneiden der drei deutschsprachigen Länder, die sich immer am Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft orientiert haben, zu einem Grossteil mit der Hauseigentümer-Quote zu tun.
Da Immobilienbesitz den grössten Teil des Nettovermögens ausmacht und bei Haushalten mit wenig Vermögen überproportional ins Gewicht fällt, resultieren in Ländern mit hohen Quoten wie Spanien (78%), Griechenland (76%) oder Italien (73%) relativ egalitäre Nettovermögensverteilungen. In Österreich (57%), Deutschland (53%) und in der Schweiz (44%) liegen die Hauseigentümer-Quoten dagegen klar tiefer – was die Gini-Koeffizienten nach oben treibt und einen Teil der Differenzen zu den anderen Ländern erklärt.
Vergessene Ansprüche
Ferner führt auch der Sozialstaat zu einer ungleicheren Vermögensverteilung. Zum einen lassen die Sozialversicherungsbeiträge den unteren Einkommensschichten kaum Raum für das Sparen, zum anderen reduzieren das Rentensystem und die Deckung der wesentlichen Lebensrisiken durch obligatorische Versicherungen die Anreize zum privaten Vorsorgesparen; auch das Erbschaftssparen, um nachkommende Generationen abzusichern, wird durch den Sozialstaat unterminiert.
Schliesslich muss das in der Grafik dargestellte Gefälle der Vermögen grundsätzlich relativiert werden, weil darin zentrale Aspekte fehlen. So werden in der schweizerischen Vermögensstatistik die Rentenansprüche aus der AHV nicht berücksichtigt. Der diskontierte Barwert dieser Ansprüche stellt aber ebenfalls Vermögen dar. Man kann in ihm in Zeiten, in denen über höhere Besteuerungen oder da und dort gar über Enteignungen nachgedacht wird, sogar das sicherere Vermögen sehen als in Wertpapieren oder Immobilien.
Auch die Vorsorgevermögen der zweiten und der dritten Säule im Umfang von 940 Mrd. Fr. werden nicht erfasst. Ansprüche und Ersparnisse des ganzen obligatorischen Teils des Vorsorgesystems sind jedoch sehr gleichmässig verteilt. Ihr Gini-Index beträgt in der Schweiz 0,07 (2014) gegenüber 0,23 in Italien, 0,20 in Spanien und 0,16 in Griechenland. Was das für die Vermögensverteilung bedeutet, lässt eine Untersuchung von Christian Keuschnigg für Österreich erahnen. Durch den Einbezug der Pensionsvermögen fällt dort der Gini-Index um 0,29 tiefer aus, obwohl die obligatorischen Rentenvermögen mit einem Wert von 0,18 ungleicher verteilt sind als in der Schweiz.
Griechen reicher als Deutsche
Solch definitorische Unschärfen können leicht zu unsinnigen Schlagzeilen führen. So weisen die gleichen statistischen Quellen der EZB ein Median-Vermögen pro Kopf aus, das kaufkraftbereinigt für Griechenland 107 309 €, für Deutschland dagegen nur 48’055 € beträgt. Noch grotesker wird es, wenn Medien titeln, nur Simbabwe und Namibia hätten eine ungleichere Vermögensverteilung als die Schweiz. Das stimmt nur, wenn man Unterschiede in den Hauseigentümer-Quoten, den Sozialversicherungssystemen und manchem mehr – kurz: ganz wesentliche Teile der Realität – ausser acht lässt.
Dieser Artikel erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 25. April 2015. Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung.