PensCheck: Herr Cosandey, wie sieht Ihr ideales Vorsorgesystem der Schweiz aus?

Jérôme Cosandey: Erstens muss es in Bezug auf die Leistungsziele Armut im Alter verhindern und darüber hinaus Anreize und Gestaltungsspielraum bieten, um im Ruhestand einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Zweitens muss die Finanzierung nachhaltig erfolgen, ohne volkswirtschaftliche Bremswirkungen und ohne strukturelle Schulden. Und drittens soll es effizient gestaltet sein, nicht billig, aber günstig und konkurrenzfähig

Haben wir das mit dem bestehenden Dreisäulenprinzip nicht schon erreicht?

Zumindest wurden die Leistungsziele weitgehend erfüllt. Armut im Alter ist kein grosses Thema mehr. Nur 12 Prozent der Pensionierten beziehen Ergänzungsleistungen. Doch das bestehende System gerät wegen der steigenden Lebenserwartung und der sinkenden Geburtenrate zunehmend unter Druck. Auch die heutigen beruflichen Laufbahnen – wie Unterbrüche für Familienarbeit, Auslandsaufenthalte, Mehrfachbeschäftigung – werden zu wenig berücksichtigt. Die Finanzierung sowie die Gestaltung weisen Schwachpunkte auf, die korrigiert werden müssen.

Gilt dies für alle drei Säulen?

Dies gilt weniger für die dritte Säule, die auf Freiwilligkeit basiert. Eher für die obligatorischen Bereiche der ersten und zweiten Säule, also für die AHV und die berufliche Vorsorge. Die AHV funktioniert nach dem Umlageverfahren. Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Rentner unterstützen, die immer länger leben. Das System stösst bereits an Grenzen. Die berufliche Vorsorge wiederum funktioniert nach dem Kapitaldeckungsverfahren. Jeder Versicherte spart hier seinen individuellen Kapitalkuchen an, den er in seinem Ruhestand verzehren kann. Wegen der steigenden Lebenserwartung muss derselbe Kuchen für eine längere Dauer ausreichen. Entsprechend wird der jährliche Kuchenanteil kleiner. Die ausbezahlte Gesamtsumme bleibt zwar konstant, die jährliche Rente jedoch sinkt.

Das will aber die Bevölkerung nicht akzeptieren. 2010 stimmten über 70 Prozent gegen eine Kürzung der Umwandlungssätze bei den Pensionskassengeldern und damit gegen kleinere Kuchenstücke.

Sie dürfen den Kontext dieser Abstimmung nicht vergessen. Nebst der Ablehnung kleinerer Jahresrenten wollte die Bevölkerung auch ihrem Unmut gegen die Exzesse in der Finanzwelt Ausdruck geben. Tatsache bleibt: Bei zu hohen Umwandlungssätzen konsumieren die Pensionäre am Kuchen anderer Versicherter. Gemäss Berechnungen von Avenir Suisse werden dafür zurzeit rund eine Milliarde Franken in der beruflichen Vorsorge umverteilt. Das ist der echte Rentenklau.

Umverteilung in Milliardenhöhe in der Sozialversicherung

Der Ausdruck «Rentenklau» unterstellt jedoch auch, dass das BVG-System zu teuer und ineffizient ist. Kritisiert wird vor allem, dass zu viele Verwalter und Berater zu hohe Löhne und Gebühren kassieren.

In Bezug auf die Effizienz besteht sicherlich Optimierungspotenzial. So haben wir nach wie vor sehr viele kleine Pensionskässeli, die im heutigen komplexen Umfeld kaum überlebensfähig sind. Hier ist jedoch ein Konsolidierungsprozess im Gange, verschwinden doch jedes Jahr rund 4 Prozent der Vorsorgeeinrichtungen. Die Professionalisierung nimmt stetig zu — und damit auch die Effizienz.

Kann nicht auch eine ausgeprägtere Trennung zwischen Obligatorium und Überobligatorium die zweite Säule entlasten?

Nur bedingt. Eine Trennung unterbindet Umverteilungen zwischen Obligatorium und Überobligatorium. Setzt darüber hinaus das Überobligatorium voll auf individualisierte Anlagen und Kapitalbezug, fallen keine gemeinschaftlichen Risiken an. DerVersicherungsnehmer trägt allerdings allfällige Anlageverluste selber. Dafür kann er eine Anlagestrategie definieren, die seine Risikofähigkeit und -neigung berücksichtigt.

PensExpert ist ja schon seit mehr als zehn Jahren mit diesem Modell erfolgreich …

… das ist beispielhaft. Derartige Modelle sind aber nur für Einkommen zugänglich, die über 125 280 Franken liegen. Meiner Meinung nach sollte man dieses Modell einer breiteren Bevölkerung zugänglich machen, indem das ganze Überobligatorium für die freie Wahl der Anlagestrategie zugelassen wird, also für Einkommen ab 83 520 Franken. Damit würde man 40 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung ermöglichen, den überobligatorischen Teil ihrer Vorsorge nach persönlichen Präferenzen zu gestalten.

Kann die freie Wahl der Pensionskasse die Effizienz zusätzlich steigern?

Gewiss, würden damit doch einerseits der Konkurrenzdruck zwischen den Kassen und andererseits der Leistungsdruck sowie die Transparenz zugunsten der Versicherten erhöht. Die Umsetzung einer solchen Massnahme benötigt aber sehr lange Übergangsfristen, trägt also kurz- und mittelfristig nicht zur Lösung der gegenwärtigen Probleme bei. Ausserdem wären damit die demographischen Grundprobleme auch nicht vom Tisch.

Wie sind denn diese zu lösen?

Rentenkürzungen haben wenig Chancen, das hat die Abstimmung im März 2010 gezeigt. Also muss man entweder mehr oder länger sparen. Mehr sparen führt zu kleineren verfügbaren Einkommen und zu einer Verschlechterung der Standortattraktivität der Schweiz. Also müssen wir länger sparen, d.h. das Rentenalter erhöhen.

Gibt es bereits konkrete Vorschläge?

In 11 OECD-Ländern wurde eine solche Erhöhung auf 67 respektive 68 Jahre beschlossen – dies trotz tieferer Lebenserwartung als in der Schweiz. Man kann diese Erhöhung auf unterschiedliche Art gestalten. Avenir Suisse schlug 2009 vor, das Rentenalter jährlich um 1,5 Monate zu erhöhen. Arbeitnehmer, die kurz vor der Pensionierung stehen, müssten ihre Arbeitszeit lediglich um einzelne Monaten verlängern. Jüngere Erwerbstätige wären härter getroffen, hätten dafür aber mehr Zeit, um zu disponieren. Einen anderen Weg schlägt Dänemark ein: Dort wird ab 2027 das Rentenalter an die Lebenserwartung gekoppelt, so dass die durchschnittliche Pensionsdauer immer bei 14,5 Jahren bliebe. Das würde nicht bedeuten, dass die Senioren nach 14,5 Jahren keine Renten mehr erhielten, wohl aber, dass das gesetzliche Rentenalter bei einer zunehmenden Lebenserwartung ebenfalls steigen würde.

Aber heute gelten ja schon Leute ab 50 als schwer vermittelbar. Wie kann dieses Modell denn überhaupt funktionieren?

Die Zeiten werden sich rasch ändern. Es fehlt an Nachwuchs und qualifizierten Arbeitskräfte. Schon heute ist die Schweiz auf rund 70 000 Einwanderer pro Jahr angewiesen, um über die Runden zu kommen. Der Arbeitskräftemangel ist voraussehbar. Restrukturierungen mit Frühpensionierungen werden deshalb immer seltener. Die Wirtschaft wird erfahrene ältere Arbeitnehmer brauchen. Die Unternehmen werden ihre Prozesse und die berufliche Laufbahn ihrer Mitarbeiter danach richten müssen.

Im aktuellen Bericht «Zukunft 2. Säule» des Bundesrates liest man nicht viel über diese Tendenzen.

In der Tat. Der Titel weckt zu grosse Erwartungen. Das Rentenalter nimmt nicht einmal eine ganze Seite ein. Auf die Zukunft wird nicht gross eingegangen. Vor allem nicht auf Megatrends wie den demographischen Wandel, die zunehmende Mobilität der Arbeitnehmer und die wachsende internationale Arbeitsteilung. Beim Bericht handelt es sich eher um eine Standortbestimmung und eine Diskussionsgrundlage für mögliche Lösungsansätze.

Was erwarten Sie jetzt von den zuständigen Stellen, dem Eidgenössischen Departement des Innern sowie der beigezogenen eidgenössischen Kommission für berufliche Vorsorge?

Das Thema ist hochkomplex. Aber die Diskussion ist in vollem Gang. Ich bin gespannt auf die Stellungnahmen, die bis Ende April 2012 eingereicht werden müssen. Danach dürfte es leichter fallen, einen finalen Bericht zu verfassen, der hoffentlich auch in die Zukunft greift, die wichtigen Megatrends besser einbezieht und daraus klare Priorisierungen ableitet.

Dieses Interview erschien in der «PensCheck» im Frühjar 2012.