Die Alterssicherung in der Schweiz ist nicht nachhaltig finanziert. Sie muss in Zukunft stärker auf dem Grundsatz der Selbstverantwortung aufbauen.
Man könnte es kognitive Dissonanz nennen: Alle wissen, dass der Sozialstaat, selbst der schweizerische, nicht nachhaltig finanziert ist und dass er nicht weiter ausgebaut werden darf. Im Jahr 2025 werden (inklusive Sozialversicherungen) rund zwei Drittel aller staatsquotenrelevanten Ausgaben auf die soziale Wohlfahrt und die Gesundheit entfallen. Noch 1990 waren es erst gut 40%. Zudem wird der Altersquotient, das Verhältnis der über 65-Jährigen zur aktiven Bevölkerung, sukzessive steigen und sich von heute 28% bis 2050 auf 52% fast verdoppeln. Während also heute noch auf eine Person im Rentenalter fast vier Menschen im Erwerbsalter kommen, wird das Verhältnis dann ungefähr 1:2 sein
Trotzdem verhalten sich alle, als ob diese Tatsachen nicht existierten. Die Linke fordert munter einen weiteren Ausbau, der Souverän verweigert sich der versicherungsmathematischen Realität, und bürgerliche Politiker fürchten sich, das heisse Eisen anzulangen – weil sie, wie weiland Bundesrat Pascal Couchepin, fast gesteinigt werden, wenn sie etwas so Unerhörtes wie eine Erhöhung des Rentenalters in die Diskussion werfen. Doch die Politik kann die ökonomische Schwerkraft nicht aufheben, da mag sie sich noch so voluntaristisch gebärden. Sie kann das Rendez-vous mit der Wahrheit zwar hinausschieben und das als Erfolg feiern – tatsächlich ist solche Politik aber verantwortungslos. Irgendwann wird die Alterssicherung auf liberale Beine gestellt werden müssen, wenn nicht aus normativer Überzeugung, so zumindest unter dem Druck der normativen Kraft des Faktischen. Wie könnte eine solche Alterssicherung aussehen?
Sie muss sicher auf dem Grundsatz der Selbstverantwortung aufbauen. Wer kann, soll für sich selbst vorsorgen. Damit sind das individuelle Alterssparen und die zweite Säule angesprochen. Wer mehr spart, hat mehr im Alter, wer weniger spart, hat weniger. Das ist der Grundsatz des Beitragsprimats. Ausserdem lässt die heutige Konstruktion der zweiten Säule zu wenig Spielraum für individuelle Entscheide. Die Versicherten sollten jenseits der obligatorischen Grundversicherung selbst entscheiden, wie viel und in welcher Form sie sparen wollen. Sie sollten sich für andere Investitionen mit Vorsorge-Aspekten (Kinder, Ausbildung, Selbständigkeit) entscheiden können, sie sollten, zumindest im Überobligatorium, aus vielen Vorsorgeprodukten auswählen und sie sollten zwischen mehreren Vorsorgeeinrichtungen wählen können. Der Wettbewerb von Pensionskassen um Versicherte führt zu Bedürfnisgerechtigkeit, Innovation und Effizienz, obwohl jeder Wettbewerb natürlich Werbe- und Suchkosten erfordert.
Die Mischung aus Umlageverfahren (erste Säule) und Kapitaldeckungsverfahren (zweite und dritte Säule) sollte man beibehalten. Die erste Säule sollte aber kein zu grosses Gewicht erhalten, denn sie basiert zu sehr auf dem Mythos des Generationenvertrags. Ein solcher Vertrag ist von niemandem je unterzeichnet worden, und er ist angesichts der Länge der Laufzeit und der Tatsache, dass die einen Vertragspartner, wenn sie den Vertrag erfüllen sollten, gar nicht mehr leben, höchst problematisch. Wer vermag schon zu garantieren, dass jene, die heute die AHV-Renten der älteren Bevölkerung bezahlen, in Zukunft wieder eine jüngere Generation finden werden, die bereit und in der Lage ist, dannzumal ihre Renten zu finanzieren? Was im Familienverband halbwegs funktioniert, ist auf der gesellschaftlichen Ebene eine Illusion.
Die erste Säule ist der richtige Ort der Umverteilung und der gesellschaftlichen Solidarität – in Massen. In der zweiten Säule ist dagegen alles, was über das normale Versicherungsprinzip hinausgeht, ein Fremdkörper. Wahrscheinlich wird man zunehmend von der unechten Kapitaldeckung wegkommen, die heute die Ergebnisse der zweiten Säule schönt, wie dies sehr pointiert in dem Avenir-Suisse-Comic von Christophe Badoux unter dem Stichwort der «fünften Variablen» dargestellt ist. Das bedeutet, dass die Risiken Langlebigkeit, Tod und Invalidität klar entflochten werden müssen.
Klar ist auch, dass man, wenn man Trittbrettfahren verhindern will, in der Alterssicherung nicht um ein Obligatorium herumkommt. Wenn eine Gesellschaft jene Menschen, die nicht vorgesorgt haben, nicht verelenden lassen will, verführt sie damit zum «moral hazard». Um diesen zu minimieren, bleibt in der anonymen Grossgesellschaft, in der die soziale Kontrolle nicht spielt, keine andere Wahl als der Zwang zu einer Mindestsicherung. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern, aber der Zwang sollte sich auf ein Minimum beschränken.
Was bedeutet dies alles? Es braucht im obligatorischen Teil der betrieblichen Vorsorge bessere und im überobligatorischen Teil weniger Regulierungen. Die derzeit zu hohen Verwaltungskosten der zweiten Säule sind nicht zuletzt eine Folge des engen Korsetts. Die Festlegung des Mindestzinssatzes und des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule sollte der Politik endlich entzogen werden, etwa durch einen an die Marktentwicklung und die Lebenserwartung gekoppelten Automatismus. Die Regulierung der zweiten Säule sollte so gestaltet sein, dass sie keine (ungewollten) Umverteilungen schafft. Diese sind im jetzigen System teilweise beträchtlich. Vorstellbar wären nach Geschlecht, Zivilstand und Altersdifferenz der Partner differenzierte Umwandlungssätze. Dass solch wesentliche Faktoren heute unberücksichtigt bleiben, widerspricht dem Prinzip der Kostenwahrheit und der Eigenverantwortung.
Aus dem Prinzip der Eigenverantwortung und der Beschränkung des Obligatoriums auf ein Minimum ergibt sich ferner, dass in Zukunft nicht alle, aber sehr viele Menschen wohl über 65 hinaus arbeiten werden («vierte Säule»). Und sie werden vermutlich trotzdem während ihrer aktiven Jahre mehr Geld für die Vorsorge aufwenden und im Alter eine kleinere Rente beziehen als heute. Man wird also an allen drei Stellschrauben drehen müssen, will man den Wohlstand im Alter sichern, und zwar solide und nachhaltig finanziert, nicht auf Pump und nicht auf Kosten der Nachgeborenen.
Dieser Artikel erschien in der NZZ vom 13. April 2011