Aufruhr im Paradies – der Titel eines unlängst erschienenen Buches beschreibt die Befindlichkeit der Schweizerinnen und Schweizer präzis. Sie geniessen den höchsten Lebensstandard, den es für die breite Bevölkerung in der Geschichte je gab. Und sie erregen sich, weil nicht alle Wohnungssuchenden in den wieder begehrten Kernstädten ein bezahlbares Angebot finden, weil unter den Pendlern in den Stosszeiten die in Tokio oder Los Angeles schon längst üblichen Zustände herrschen, weil Wirtschaftsflüchtlinge ihr Gastrecht missbrauchen oder weil Manager, die Millionen beziehen (aber nicht immer verdienen), die mit ihrer Macht und ihrem Einkommen verknüpfte Verantwortung nicht genügend wahrnehmen. Kurz: Die Menschen in aller Welt können die Schweizer um ihre Sorgen beneiden.

Die Probleme der Schweiz die nicht verniedlicht werden sollen – haben nämlich meist mit dem Wohlstand zu tun, den sie sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erarbeitet, und mit dem Erfolg, den sie im letzten Jahrzehnt erzielt hat. Von der günstigen Situation zeugen harte Zahlen. Selbst über die Jahre der Finanzkrise hinweg verzeichnete die Schweiz Wirtschaftswachstum sowie Überschüsse im Staatshaushalt. Sie erfüllt deshalb, während Europa unter der Schuldenkrise ächzt, als eines von wenigen Ländern die Maastricht-Kriterien. Und sie behauptet im Global Competitiveness Report des World Economic Forum seit Jahren einen Spitzenplatz, nachdem noch vor zwanzig Jahren führende Ökonomen befürchtet hatten, sie werde «vom Sonderfall zum Sanierungsfall». Die Analysten des Wirtschaftsmagazins «Economist» stellten denn auch in einem Ende 2012 veröffentlichten Ranking fest, das Land, in dem man gerne geboren würde, sei heute die Schweiz.

Dass das Land gegenwärtig gemäss einer Fülle von Indikatoren im internationalen Vergleich geradezu glänzend dasteht, verdankt es einerseits einer etwas klügeren Politik: mit der Schuldenbremse, die einen über den Konjunkturzyklus ausgeglichenen Haushalt fordert, dem Steuerwettbewerb, der die Gemeinwesen zum Masshalten zwingt, einer geschickten Rollenverteilung zwischen Staat und Unternehmen in der Innovationspolitik, einem flexiblen Arbeitsmarkt und einer dualen Berufsbildung, dank denen die Arbeitslosigkeit, zumal jene der Jugendlichen, auf Tiefstständen verharrt.

Doch diese Erfolge dürfen nicht zu Selbstgefälligkeit verleiten. Die Schweiz kam nur mit Einsatz, Umsicht, Klugheit -oder Schläue? – sowie einigem Glück so weit. Und sie bleibt letztlich Einäugige unter Blinden. Es steht bei weitem nicht alles zum Besten. Zudem hätte es auch anders kommen können – und es kann wieder ganz anders kommen, wenn die Schweiz ihr Erfolgsmodell nicht bewahrt und entwickelt. Sie kann ihre herausragende Stellung nur halten, wenn sie sich nicht auf ihren Errungenschaften ausruht, sondern weiter Ehrgeiz beweist: Grundsätzlich muss sie, so ambitiös dies klingen mag, wirtschaftlich stets und überall etwas besser sein – auch wenn ihr dies noch mehr Neider und Gegner einbringt. Das zwingt zu dauernder Standortpflege, um günstige Bedingungen für die Aussenwirtschaft zu schaffen. Die Schweiz braucht wegen ihrer vielen natürlichen «Nachteile» obwohl sich diese beim zweiten Hinsehen nicht immer als Nachteile erweisen – eine mittel- bis langfristige Reformpolitik, die Stärken stärkt und Schwächen schwächt. Das neueste Buch von Avenir Suisse, «Ideen für die Schweiz. 44 Chancen, die Zukunft zu gewinnen», das seit Wochen breit und kontrovers diskutiert wird, entspringt genau diesem Geist.

Allen darin präsentierten Ideen ist neben der liberalen Perspektive eines gemeinsam: Sie fallen weitestgehend in die Zuständigkeit der Schweiz; sie sind nicht gänzlich unabhängig von dem, was ringsum passiert, aber doch so angelegt, dass von der Sache her wenig Abstimmungs- und Koordinationsbedarf besteht. Sie sollen dazu dienen, das Haus Schweiz in Ordnung zu halten, es also vorausschauend so zu gestalten, dass es in möglichst vielen Situationen seine Qualität und Stabilität behalten kann. Denn gerade für eine kleine Willensnation wie die Schweiz bleiben Zukunftsoffenheit, Flexibilität und Risikodiversifikation besonders wichtig.

Dieser Artikel erschien im Aussenwirtschaftsmagazin «Go!» der Osec (01/2013).