Herr Schwarz, Praxis- oder Theorieausbildung ist oft die Frage für einen jungen Menschen, der den Schritt zum Beruf machen will, und das heisst oft auch Lehre oder Hochschule.
Bei Avenir Suisse haben wir dazu eine Studie gemacht. Ergebnis: Die klassische Berufslehre im Betrieb kennen wir in der Schweiz, Deutschland, Österreich, in Dänemark und in Tschechien. Sonst ist sie weitgehend unbekannt. Das führt dazu, dass in vielen internationalen Unternehmen ein Lehrabschluss nicht richtig anerkannt wird, auch weil sie dessen Qualität nicht abschätzen können. Die Personalchefs denken dann, ein Bachelor sei sicher etwas Besseres als ein Lehrabschluss, was ja keineswegs zwingend so sein muss.
Auf der anderen Seite herrscht Mangel etwa an qualifizierten Informatikern. Warum bilden die betroffenen Unternehmen nicht selber aus?
Unsere Untersuchungen zeigen: Lehrberufe sind unterschiedlich rentabel für die Arbeitgeber. In manchen Berufen bringt ein Lehrling dem Lehrbetrieb bereits nach einem Jahr mehr, als er kostet. Weitgehend sind das eher traditionelle gewerbliche Berufe. Im Technologie- und Informatikbereich ist das dagegen nicht so. Dort legt der Lehrbetrieb praktisch bis zum Abschluss der Lehre drauf.
Was wäre zu tun?
Ein Auszubildender könnte beispielsweise eine Verpflichtung eingehen, noch weitere drei Jahre nach Abschluss der Lehre im Betrieb zu bleiben, damit der Arbeitgeber seine Ausbildungskosten amortisieren kann. Wir müssen einfach die Anreize richtig setzen und nicht in planwirtschaftlicher Manier nun körbeweise Informatiker ausbilden. Wenn die Anreize auf beiden Seiten stimmen, werden wir auch bekommen, was die Wirtschaft braucht.
Wo sollt en aus Ihrer Sicht für die Wirtschaft die Schwerpunkte in der Ausbildung gesetzt werden?
Wenn wir jetzt eher an die Hochschulstufe denken – wobei das ähnlich auch für andere Ausbildungswege gilt –, würde ich sagen: breit anwendbares Methodenwissen, das es ermöglicht, Problemlösungen in verschiedenen Feldern zu erarbeiten. Da heute Jobs und Job-Profile öfter ändern, sollten Ausbildungen nicht zu sehr auf konkrete Arbeitsstellen fokussiert sein. Das ist, als Klammerbemerkung, übrigens zum Teil bei der Berufslehre leider noch der Fall. Auch Sprachkenntnisse gehören zu diesem Grundwissen, und zwar eben nicht nur Englisch und Französisch, sondern vielleicht sogar Mandarin. Die Gefahr ist allerdings, dass man vor lauter allgemeinem Methodenwissen dann zu wenig konkrete Kenntnisse und auch zu wenig praktisches Denken mitbringt. Ein Teil des Erfolgs der Fachhochschulen und – eine Stufe darunter – der Berufsmatur liegt genau darin, dass sie diese beiden Aspekte relativ gut miteinander verbinden.
Im Falle der Hochschule Luzern – Wirtschaft ist der Link zur Praxis ja Programm.
Das finde ich eine gute Sache. Aber bei dieser Kombination und bei der ganzen Anknüpfung von Lehre und praktischer Berufserfahrung an die Hochschule ist entscheidend, dass die Zugangskriterien und die Standards nicht herabgesetzt werden. Es gilt zu akzeptieren, dass Hochschulen wissenschaftsnahe – akademische – Ausbildungsstätten sind. Wenn Praxisnähe einer Hochschule nicht Verwässerung heisst, ist das gut. Man kann daneben auch sehr gute, anspruchsvolle, praxisorientierte, aber eben nicht wissenschaftsnahe Ausbildungen vorsehen. Eine solche Ausbildung sollte man aber nicht als Hochschulausbildung bezeichnen. Und in diesem Zusammenhang muss man wohl etwas zu den Standards sagen: Man kann dem internationalen Druck auf die Schweiz, Maturanden- und Hochschulabgängerquoten nach oben zu drücken, auf zwei Arten nachkommen. Man kann sich bemühen, noch mehr versteckte Talente zu heben und wirklich alle, die dazu geeignet sind, auch wirklich auf den Weg des Studiums zu führen. Oder man kann die Ansprüche senken, womit auf einen Schlag mehr junge Menschen studieren können. Viele Länder sind diesen Weg gegangen. Ich halte ihn nicht für erfolgreich. Wir müssen unbedingt vermeiden, diesen Weg zu gehen.
Eine Fachhochschule wie die in Luzern will ja gerade keine Wissenschaftler ausbilden, sondern Praktiker. Persönlich habe ich gegenüber dem Bachelor-/Master-Konzept und der im Grunde unklaren Positionierung der Fachhochschulen einerseits und der Universitäten andererseits meine Vorbehalte. Vieles ist da nicht sauber geklärt. Es heisst zwar, die eine Ausbildung sei praxisbezogener, aber am Schluss gibt es an beiden Orten einen Bachelor, obwohl die Voraussetzungen, unter denen dieser erworben wird, doch recht unterschiedlich sind. Und schliesslich kann jeder einen Master nachschieben, ganz gleich, wo er seinen Bachelor erworben hat.
Damit haben Sie ein Problem?
Es ist einfach nicht ganz logisch, denn die Ausbildung ist unterschiedlich, die Auslese der Studierenden bereits am Anfang ist unterschiedlich, und am Schluss führt man das alles wieder unter einem Dach zusammen. Es gibt eine Tendenz, die Fachhochschulen Richtung Universität zu schieben, und am Schluss verschmilzt alles zum Gleichen, was nicht die ursprüngliche, deklarierte Absicht der Bildungsreform war.
Was ist die Folge?
Wir werden am Schluss amerikanische Verhältnisse haben. Dort heisst es längst nicht mehr: «Ich habe einen Bachelor oder einen Master gemacht.» Es ist ein Master von Harvard oder Columbia, und bei uns wird man dereinst noch stärker als schon heute sagen, ich habe an der ETH oder der HSG studiert.
Seit der Gründung der Hochschule Luzern – Wirtschaft geht es dort darum, den Nachwuchs für die Wirtschaft und die Öffentliche Verwalt ung auszubilden.
Es gibt in der Wirtschaft den verständlichen Wunsch, sofort produktive Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu bekommen. Zum Teil auch aus dem Gefühl heraus, Universitätsabgänger seien oft überqualifiziert und auf die wirklichen Aufgaben in den Unternehmen wenig vorbereitet. Überspitzt formuliert: zu viele Chefs, zu wenige Indianer. Diese Ausbildung direkt für Führungspositionen hat dann gelegentlich auch den Nachteil, dass die Chefs vom Geschäft selbst nicht genug verstehen.
Plädieren Sie jetzt nicht für mehr Fachwissen und weniger allgemeine Kenntnisse?
Ganz so einfach ist es nicht, es geht einmal mehr um eine schwierige Balance. Ich habe mich auch schon gefragt, ob wir in der aktuellen Finanz und Wirtschaftskrise, die ja auch eine Wertekrise ist, nicht in vielen Führungspositionen im Finanzsektor zu viele Technokraten hatten, Manager, die jedes noch so komplizierte finanztheoretische Modell verstehen, die schnell ein neues Produkt kreieren und rechnen können, denen aber der Blick fürs Ganze (man könnte das fast eine philosophische Ader nennen) und der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen sind. Ob unsere Ausbildung da nicht in eine falsche Richtung getrieben worden ist? Um im Bild zu bleiben: Einer, der Philosophie studiert hat, käme kaum auf die Idee zu glauben, er habe das Risiko im Griff, nur weil er es mithilfe einer mathematischen Formel berechnet hat. Also: Überflieger ohne Sachkenntnis und ohne Sinn fürs Detail sind in Führungspositionen ein Problem, aber vielleicht noch mehr relativ enge Spezialisten ohne breiteren Blickwinkel.
Also haben wir im Bildungssystem falsch investiert? Oder vielleicht auch zu wenig?
Ich warne etwas vor dem übertriebenen Glauben, man könne, um unsere Standortqualität zu verbessern, gar nicht genug Geld in die Bildung stecken, und je mehr man hineinstecke, desto mehr komme hinten heraus. In jeder Bevölkerung sind die Begabungen zwischen Hoch-, Normal- und Schwachbegabten ungefähr natürlich verteilt. Wenn Sie allen ein Maximum an Förderung zukommen lassen, können Sie das Bildungsniveau insgesamt vielleicht noch etwas anheben. Aber Sie können damit nicht Schwachbegabte auf ein ähnliches Niveau drücken wie Normalbegabte. Aus diesem Grund halte ich auch eine höhere Maturanden- und Akademikerquote nicht per se für besser als eine niedrigere. Der Arbeitsmarkt benötigt Differenzierung nicht nur im Beruf, sondern auch im Ausbildungsniveau.
Dies betrifft den nationalen Kontext. Welche Bedeutung besitzt heute der internationale?
Universitäten bieten heute Auslandssemester an, lehren interkulturelles Management und Fremdsprachen. Dabei geht es auch um die Vermittlung von Kultur, um ein eher philosophisches Bewusstsein, dass es immer auch ganz andere Sichtweisen auf die Welt gibt. Dennoch sollte man es nicht übertreiben mit dem modischen Glauben, wir müssten die jungen Menschen für die Globalität ausbilden. Zunächst einmal müssen sie ihren Job hier und heute ausüben können und nicht zwingend in Singapur oder China. Sie müssen eine gewisse Offenheit entwickeln, um mit der Welt zu kommunizieren. Sie müssen sich über die Welt informieren, meinetwegen die NZZ lesen. Und ausländische Kommilitoninnen und Kommilitonen in der Schweiz helfen natürlich auch, den Horizont zu erweitern.
Geld und Hochschule ist ein Dauerthema. Ihre Meinung?
In der Ausbildung an den Hochschulen müssen wir uns in Richtung Kostenwahrheit bewegen und die Studiengebühren den tatsächlichen Kosten annähern. Das geht nur, wenn es Leistungs- und Sozialstipendien gibt, damit keiner, der Leistung bringen will, aber die finanziellen Möglichkeiten nicht hat, von der Hochschule ausgeschlossen ist. Wer Bildung dagegen mehr als Konsum denn als Investition in seine berufliche Zukunft versteht, der soll merken, dass dieser Konsum nicht kostenlos ist, sondern eher einen Luxus darstellt. Es ist auch stossend, wenn Konkordatskantone die Kosten ihrer Studierenden vollumfänglich begleichen, während etwa ausländische Studierende nur einen Bruchteil der Kosten tragen müssen, die sie verursachen. Am einfachsten wäre es, man würde etwa festlegen, wie viel beispielsweise ein Ökonomie-Studium kostet, und die Kantone würden den finanziell schwächer Gestellten mit rückzahlbaren Stipendien, meinetwegen sogar mit verlorenen Zuschüssen, unter die Arme greifen. Das Gleiche gilt für Ausländer. Verfügt eine Hochschule über einen tadellosen Ruf, sind auch ausländische Staaten bereit, leistungsbereiten Studierenden dort ein Studium zu finanzieren.
Drittmittel für die Hochschule. Ein taugliches Modell?
Wenn Sie ein Nein hören wollen, fragen Sie den Falschen. Ich bin geprägt von meinem Studium an der HSG, die immer stolz darauf war, nicht ausschliesslich von öffentlichen Geldern oder den Studiengebühren abhängig zu sein. Was soll daran verkehrt sein, wenn beispielsweise die Transportbranche sagt, sie habe ein Problem, weil zu wenig Logistiker ausgebildet würden, und wenn sie deshalb einen entsprechenden Lehrstuhl finanziert oder ein Forschungsinstitut unterstützt? Logischerweise bekäme dann die Logistik im Lehrangebot einen höheren Stellenwert, als wenn der Rektor oder das Gremium der Professoren allein entscheiden würden, was gelehrt wird. Nur: Weshalb sollen diese weiser sein in der Auswahl der Themen oder Schwerpunkte? Ich kenne auch die Angst unter den Medizinern, wo ich einige Freunde habe, ein Auftraggeber könnte ihre Freiheit der Forschung beschneiden. Ich habe da eine ganz klar andere Meinung.
Die da wäre?
Es ist offenzulegen, woher die Gelder kommen. Mit dem Auftraggeber müssen Rahmenbedingungen definiert werden, wie weit die Freiheit der Forschung gehen kann. Ein Auftragnehmer muss aber auch den Mut haben, ein Projekt abzulehnen.
Dieses Interview erschien in «40 Jahre Hochschule Luzern-Wirtschaft» im November 2011.