«Es ist kompliziert.» Diese Zusammenfassung für den diesjährigen wettbewerbspolitischen  Workshop bei Avenir Suisse hätten wohl einige der Teilnehmer gelten lassen. Unter dem Titel «Relative Marktmacht: Zukunftsweisendes Konzept oder deutscher Sonderweg?» diskutierten hochkarätige Referenten mit einem ebensolchem Publikum darüber, ob das heute geltende kartellrechtliche Missbrauchsverbot für marktbeherrschende Unternehmen auf «relativ marktmächtige» Unternehmen ausgedehnt werden sollte. Befürworter dieses Konzepts versprechen sich davon einen stärkeren Schutz der hiesigen Nachfrager vor Lieferverweigerungen und Preisdiskriminierung durch ausländische Unternehmen.

Dass diese Frage in der Schweiz höchst aktuell ist, zeigte in seinem Eingangsreferat Simon Jäggi, stellvertretender Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik beim SECO. So sind zurzeit zahlreiche Vorstösse im Parlament hängig, die sich mit der Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen aus dem nahen EU-Ausland beschäftigen. Auch die Fair-Preis-Initiative bläst in dieses Horn. Sie hat der «Hochpreisinsel Schweiz» den Kampf angesagt und fordert im markigen Worten ein härteres Vorgehen des Bundes gegen die ausländischen «Abzocker».

Ab wann ist ein Unternehmen marktbeherrschend?

Wie schwer Marktbeherrschung in der Praxis zu bestimmen ist, zeigte der Industrieökonom und Wettbewerbsexperte Prof. Georg Götz von der Universität Giessen. Er kritisierte insbesondere die sprachliche Unschärfe des Begriffs «relative Marktmacht», der kaum etwas mit dem ökonomischen Begriff der Marktmacht zu tun habe. So stehe bei der relativen Marktmacht die Abhängigkeit der Nachfrager im Zentrum und nicht die Möglichkeit der Unternehmen sich aufgrund ihrer Marktstellung den disziplinierenden Kräften des Wettbewerbs zu entziehen.

Thomas von Aquin | Wikimedia Commons

Die Diskussion um den gerechten Preis ist alles andere als neu. Sie beschäftigte schon die Gelehrten des Mittelalters, wie zum Beispiel Thomas von Aquin (Wikimedia Commons)

Götz stellte klar: Wenn die Hersteller den Schweizer Detailhändlern Standardprodukte wie Nutella oder Nivea-Creme zu einem höheren Preis als in Deutschland verkauften, sei das eine auch unter Wettbewerb übliche Form der Preisdiskriminierung. Bei Vorwürfen wie dem des Ausnützens der Abhängigkeit von Ersatzteilen oder Verbrauchsmaterialien, man denke an die Preise von Druckerpatronen, sei das meist kein Fall für das Wettbewerbsrecht, sondern viel eher für das Vertrags- oder Verbraucherrecht. Das Wettbewerbsrecht greife nicht, solange die Marktbeherrschung des Verkäufers nicht nachgewiesen sei. Besonders schwierig werde es zudem jeweils, wenn der Staat konkret entscheiden müsse, ab wann ein Preis missbräuchlich sei. Wo genau läge zum Beispiel der korrekte Preis für deutsche Bücher in der Schweiz? Dürfen diese überhaupt teurer sein als in Deutschland und – falls ja – um wieviel (5%, 10% oder sogar 50%)?

Was muss, darf, soll die WEKO?

Oliver Kaufmann, Partner bei der Kanzlei Streichenberg Rechtsanwälte, vertrat mit Blick auf die Praxis der WEKO und die Kartellgesetzrevision 2004 dezidiert die Meinung, dass das Konzept der relativen Marktmacht bereits heute im Kartellgesetz verankert sei – Vorstösse wie die Fair-Preis-Initiative seien in diesem Sinne überflüssig. Es gäbe zwar bis heute kaum relevante Entscheide von übergeordneten Instanzen, die WEKO habe in der Vergangenheit aber bereits verschiedentlich Fälle unter dem Gesichtspunkt der relativen Marktmacht untersucht. Er machte weiter darauf aufmerksam, dass das Konzept zwar auch in anderen Ländern existiere, dort aber ebenfalls umstritten sei. Gerade im internationalen Verhältnis bestünden zudem ungelöste Fragen zur Um- und Durchsetzbarkeit. Für bestimmte Fallgruppen der relativen Marktmacht sei zudem fraglich, ob ein Unternehmen in der Praxis effektiv mit genügender Sicherheit abschätzen könne, ob es «relativ markmächtig» sei. Und skeptisch zeigte sich Kaufmann letztlich dazu, ob das Konzept der relativen Marktmacht nachhaltig zur Reduktion der «Hochpreisinsel» Schweiz beitragen könnte.

Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse und Mitglied der WEKO, nahm eine nicht minder kritische Haltung ein. Auch er gab zu bedenken, ob tatsächlich der Staat in einer «schon fast religiösen Art und Weise» anstelle des Marktes über die Richtigkeit eines Preises befinden solle. Und: Tiefere Preise wollten in der Schweiz alle, nicht aber tiefere Löhne. Minsch erinnerte daran, dass ein grosser Teil der «Hochpreisinsel» hausgemacht sei. Die vielen vom Ausland abweichenden Regulierungen, der Mehrwertsteuerausgleich und die physische Zollgrenze erleichterten den ausländischen Herstellern die Preisdifferenzierung massgeblich. Das effizienteste Mittel seien deshalb die konsequente Abschaffung der Helvetismen, ein einfacher Mehrwertsteuerausgleich, sowie Liberalisierungen in den Infrastrukturmärkten und im Agrarhandel mit der EU. Die Fair-Preis-Initiative stelle in diesem Sinne mehr Symptom- als Ursachenbekämpfung dar. Sie nähre falsche Erwartungen, stelle einen starken Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit dar und schaffe Rechtsunsicherheit.

Was nützt die Fair-Preis-Initiative?

Interessante Einsichten brachte auch die abschliessende Diskussion über die Fair-Preis-Initiative, die in den Augen der Anwesenden mit grosser Sicherheit zu einer Enttäuschung beim Stimmvolk führen würde, da sie ihr Versprechen nicht halten kann: Die Einführung des Konzepts der relativen Marktmacht stellt kein Heilmittel gegen die Hochpreisinsel Schweiz dar. Sofern durchsetzbar, könnte den Schweizer KMU allenfalls punktuell eine Mittel zur einfacheren Beschaffung von Produkten im Ausland in die Hand gegeben werden. Ein kartellrechtliches Anliegen werde damit aber letztlich nicht adressiert – de facto gehe es schlicht um ein «Auslandeinkaufsgesetz für KMU». Das klingt zwar weniger schön, als von «fairen» Preisen zu sprechen, entspräche aber zumindest den Tatsachen.