Die Energiestrategie 2050 erhitzt die Gemüter in allen politischen Lagern. Urs Meister, Energieexperte von Avenir Suisse, gehört zu den fundiertesten Kritikern der Strategie. Im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft» zeigt er die wichtigsten Schwachpunkte auf.
Finanz und Wirtschaft: Herr Meister, wird die Energie knapp?
Urs Meister: Derzeit deutet wenig darauf hin. In den fossilen Energien zeigt der Boom bei den unkonventionellen Ressourcen, etwa Schiefergas in den USA, in eine andere Richtung. Neue Technologien für erneuerbare, aber auch konventionelle Stromproduktion schaffen zusätzliches Potenzial.
Gilt das auch für den Schweizer Strommarkt?
Die Schweiz ist im Strommarkt stark in Europa eingebunden. Kraftwerküberkapazitäten, tiefe Kosten für Gas, Kohle und CO2-Zertifikate sorgen derzeit für tiefe Preise. Das aber schlägt sich im Inland nur bei einem Teil der Endverbraucher nieder. Im unvollständig liberalisierten Schweizer Markt orientiert sich der Strompreis für einen Grossteil der Kunden nicht an den Marktpreisen, sondern an den Produktionskosten des einzelnen Anbieters.
Lassen sich Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch entkoppeln?
Eine Entkoppelung sehe ich nicht. Wenn die Wirtschaftsaktivitäten zunehmen, steigt auch der Energieverbrauch. Die Frage ist vielmehr, wie stark der Zusammenhang ist. Seit den Siebzigerjahren sinkt der Energieverbrauch pro Wirtschaftsleistung. In vielen Ländern hat dies nicht nur mit höherer Effizienz und einer Tertiarisierung der Wirtschaft zu tun, sondern besonders mit dem Einsatz höherwertiger Energie, vor allem Elektrizität.
Auch in wohlhabenden Ländern wie der Schweiz?
Ja, das trifft auch in der Schweiz zu. Interessant ist, dass der Einfluss des Bruttoinlandprodukts pro Kopf auf den Energieverbrauch relativ gering ist. Dies entgegen der Annahme, dass der persönliche Wohlstand ein Treiber für den wachsenden Energiekonsum ist. Hingegen hat das Bevölkerungswachstum einen grossen Einfluss auf den Gesamtverbrauch.
Wie weit beeinflusst die Energiestrategie des Bundesrats die Position der Schweiz im internationalen Standortwettbewerb?
Besonders kritisch sind hohe Energiepreise für Industrien mit grossem Energieverbrauch, da sie gegenüber dem Ausland schlechter gestellt würden. Der Effekt auf Wirtschaftsleistung und -struktur lässt sich schwer quantifizieren, da er von den relativen Preisen abhängt, also der Energie- und der Klimapolitik im Ausland.
Aber es sind Ausnahmen für energieintensive Branchen vorgesehen?
Ja, die Politik kommt nicht darum herum, solche zu gewähren, obwohl dort vermutlich bedeutendes Potenzial für Einsparungen liegt. Unsinnigerweise können solche Ausnahmeregelungen dazu führen, dass energieintensive Branchen de facto subventioniert werden. Sie müssen sich etwa nicht an der Einspeisevergütung beteiligen und profitieren zudem von tieferen Preisen im Stromgrosshandel.
Sehen Sie Zielkonflikte in der europäischen Energiepolitik?
Ein zentrales Problem liegt in der gleichzeitigen Festlegung von Zielen für den Ausbau erneuerbarer Energien und die Reduktion von CO2-Emissionen. Aufgrund der Wirtschaftskrise sind CO2-Zertifikate derzeit günstig, was Kohlekraftwerke attraktiver macht. Erneuerbare profitieren von Subventionen. Effiziente Gaskraftwerke mit relativ tiefem CO2-Ausstoss werden dagegen aus dem Markt gedrängt. Sinnvoller wäre es, die Energiebereitstellung nur über die Menge der Emissionszertifikate, also die Preise im Markt, zu steuern. Die hohen Ausbauziele bei den Erneuerbaren etwa in Deutschland sind keine effiziente Energiepolitik, sondern eher eine Form von Industriepolitik.
Die Schweiz kopiert diese Konflikte?
Ja, in gewisser Weise kopieren wir mit zeitlichem Abstand das Vorgehen und die Fehler Deutschlands. Das ist besonders kritisch, da die Schweiz keine Insel ist und von der Politik der Nachbarländer direkt betroffen ist. Die Energiestrategie 2050 ignoriert die damit verbundenen Effekte.
Wie meinen Sie das?
Die Energiestrategie fokussiert – in einer Art Buchhaltermentalität – die Überbrückung einer Stromlücke. Einen wesentlichen Beitrag soll etwa die Photovoltaik leisten. Doch Länder wie Deutschland und Italien haben sie bereits so stark gefördert, dass es an sonnigen Tagen zu Überschüssen, Exporten und einbrechenden Preisen kommt. Die Strategie eines kleinen Landes mit grossem Handelsanteil sollte dies berücksichtigen.
Obwohl die Schweiz in der Energiestrategie 2050 als Insel betrachtet wird, geht der Bundesrat von einer internationalen Harmonisierung der Klimapolitik aus.
Ja, sie aber ist sehr unwahrscheinlich. Die Aussichten für eine einheitliche Klimapolitik sind auf internationaler Ebene unsicher, und selbst innerhalb Europas bestehen grosse Fragezeichen. Aufgrund der Krise in vielen Ländern scheint es unwahrscheinlich, dass Europa weitgehende, kostspielige Klimaziele auch für die Periode nach 2020 formulieren wird.
Welche Kosten drohen Deutschland und der Schweiz für ihre Energiestrategie?
Die volkswirtschaftlichen Kosten lassen sich kaum ermitteln. In Deutschland wird häufig auf vermeintlich positive Effekte und die anhaltend starke Wirtschaftskraft hingewiesen. Ich glaube vielmehr, dass die relativ robuste deutsche Konjunktur bisher die negativen Effekte der Energiewende verdeckt. Zahlenschiebereien um Kosten und Nutzen der Energiewende sind nicht zielführend. Wichtiger ist vielmehr, dass man einen effizienten Weg einschlägt.
Wie sollte er aussehen?
Die Schweiz sollte sich bei ihrer Energiewende Zeit lassen. Damit verbunden ist eine grössere Technologieoffenheit, sowohl bei konventionellen als auch erneuerbaren Energien. Eine Eile-mit-Weile-Strategie ist vor dem Hintergrund anhaltender Kraftwerküberkapazitäten und Unsicherheiten über die längerfristige Klimapolitik in Europa sinnvoll.
Direkte Subventionen gehören wohl nicht zu einer effizienten Strategie?
Nein. Ursprünglich ging es bei der Einspeisevergütung für erneuerbare Energien, der KEV, darum, neue Technologien am Markt zu etablieren. Doch mit wachsendem Anteil der Erneuerbaren nehmen Ineffizienz und Marktverzerrungen der KEV überproportional zu.
Die Politik will mit Subventionen die Schweizer Solartechnologie voranbringen.
Die Schweiz kann eine Technologie nicht über Subventionen marktfähig machen, der Markt ist zu klein. Vielleicht gelingt dies grossen Volkswirtschaften wie den USA oder China, aber auch hier habe ich Zweifel an einer solchen Industriepolitik.
An der Börse sind Solarunternehmen wie auch klassische Versorger unter Druck geraten. Eine Folge der Fehlanreize?
Die Solarbranche profitierte von der Förderung in Europa, die vor allem auf dem Modell der Einspeisevergütung basierte. Nun nimmt in vielen Ländern wegen der Wirtschaftskrise der Spielraum für weitere Aufschläge auf Stromtarifen ab. Daneben drängen chinesische Anbieter in den Markt, die von direkter staatlicher Förderung profitieren. Versorger mit konventionellen Anlagen geraten vorab wegen der Wirtschaftskrise und damit verbundener Kraftwerküberkapazitäten unter Druck.
Welche Rolle spielt der subventionierte Wind- und Solarstrom?
Es gibt einen Verdrängungseffekt durch subventionierte Energien: Am deutschen Terminmarkt wird Grundlast derzeit unter 40 € pro Megawattstunde gehandelt. Der preissenkende Effekt der erneuerbaren Energien dürfte rund 10 € betragen. was signifikant ist und die Ertragskraft konventioneller Stromproduzenten belastet. Selbst bei einem Preis von 50 € pro Megawattstunde wäre die Wirtschaftlichkeit vieler konventioneller Anlagen fraglich.
Es werden schon Rufe nach Subventionen für die konventionelle Produktion laut.
Dahinter steht der Gedanke, dass ein Mechanismus oder ein separater Markt für die blosse Vorhaltung von Kraftwerkkapazitäten bestehen sollte. Ob es solche Kapazitätsmärkte braucht, ist umstritten. Eigentlich sollte ein reiner Energiemarkt fähig sein, die richtigen Investitionsanreize zu vermitteln. Doch Unsicherheiten und Regulierungen verändern das Bild. Da es im Moment Kraftwerküberkapazitäten gibt, ist die mittelfristige Notwendigkeit eines Kapazitätsmarktes schwer abzuschätzen. Die Schweiz sollte bei dieser Frage jedenfalls nicht vorpreschen.
Schweizer Versorger wollen sich die Wasserkraft extra vergüten lassen.
Einige Gebirgskantone haben eine Einspeisevergütung für Grosswasserkraftwerke gefordert. Davon ist abzuraten. Die KEV vermittelt keine sinnvollen Investitions- und Produktionsanreize. Die Ausdehnung der KEV auf konventionelle Stromquellen wäre das Ende des Marktes und der Beginn einer vollumfänglichen, ineffizienten Subventionswelt.
Wie stehen die Chancen für eine Strommarktöffnung in der Schweiz?
Weder beim Bundesrat noch bei den Parlamentariern steht die vollständige Liberalisierung ganz oben auf der Prioritätenliste. Auch die Branche treibt das Thema nicht mehr so aktiv voran. Seit der Änderung der Stromversorgungsverordnung hat ein tiefer Marktpreis nicht mehr Vorrang vor hohen Gestehungskosten.
Was erwarten Sie von der bundesrätlichen Botschaft zur Energiestrategie?
Der Bundesrat dürfte nicht einfach die Massnahmen im Vernehmlassungsentwurf übernehmen. Ich erwarte Korrekturen etwa bei den Instrumenten zur Verbrauchsreduktion oder der KEV, die im Kontext internationaler Entwicklungen immer ineffizienter werden, aber auch beim geplanten Ausbau der Grosskraftwerke, die im gegenwärtigen Marktumfeld nicht wirtschaftlich wären.
Und die Technologieneutralität?
Die Politik ist zu stark auf die Frage fokussiert, mit welcher Technologie sich die Stromlücke füllen lässt. Doch es ist weder die Kompetenz noch die Aufgabe der Politik, Investitionsentscheide zu treffen. Sie sollte sinnvolle Rahmenbedingungen formulieren. Eine effiziente Klimapolitik würde den Kraftwerkpark einzig über CO2-Zertifikate steuern, die Technologiewahl und die Rolle von Importen würden dem Markt überlassen. Will die Politik unbedingt Erneuerbare fördern, sollte sie das eher über ein technologieneutrales Quotenmodell statt über eine KEV machen.
Hat das Stromabkommen mit der EU noch Chancen?
Das ist schwer zu beurteilen, weil institutionelle Fragen wichtig sind. Ich halte das Stromabkommen für wichtig. Es könnte dem Schweizer Markt wichtige Impulse für eine weitere Liberalisierung geben.
Würde die Schweiz vom europäischen Markt abgeschnitten, wenn es scheitert?
Nein. Aber es drohen Nachteile bei der Vereinfachung des Handels mit Energie und Netzkapazitäten, der Bestimmung der Handelskapazitäten und dem Ausbau der Netze. Ein effizienter Handel ist im Interesse der Verbraucher. Die Schweiz hat grosses Interesse daran, in den europäischen Kontext eingebunden zu sein.
Dieses Interview erschien in der «Finanz und Wirtschaft» vom 9. Juli 2013. Mit freundlicher Genehmigung der «Finanz und Wirtschaft».