Angela Barandun: Wenn ich Sie vor Ihrem Wechsel zu Avenir Suisse gefragt hätte, wer Rudolf Wehrli ist – hätten Sie es gewusst?
Gerhard Schwarz: Ja, sicher. Ich kenne ihn noch aus der Zeit, als er Chef der Findungskommission bei Economiesuisse war, die damals Gerold Bührer aus dem Hut gezaubert hat. Aber ich weiss, worauf Sie anspielen: Er ist keiner, der in der Öffentlichkeit bekannt ist. Anders ist das bei Leuten, die sich für Wirtschaft interessieren. Er war übrigens auch in der Findungskommission, die mich für mein jetziges Amt vorgeschlagen hat.
Rudolf Wehrli ist weder politisch noch wirtschaftlich eine Leitfigur. Braucht es das nicht für diesen Job?
Durch seine neue Funktion wird er automatisch bekannter werden. Ich habe schon einige Economiesuisse-Präsidenten erlebt in meiner 30-jährigen Journalistenkarriere. Gerold Bührers Vorgänger, Ueli Forster, war auch nicht bekannt, als er das Amt übernahm. Bekanntheit ist nicht das Wichtigste auf diesem Posten. Es braucht jemanden, der die sehr heterogene Wirtschaft halbwegs repräsentieren kann. Jemanden, der eine hohe Glaubwürdigkeit ausstrahlt. Meiner Meinung nach tut das Ruedi Wehrli.
Ist die Wirkung nach innen wichtiger als diejenige nach aussen?
Nein, aber ich traue ihm zu, dass er beides kann: nach innen integrieren und nach aussen überzeugen. Für mich ist er jemand, der sehr authentisch ist, der relativ starke Werte verkörpert. Dass er Theologie studiert hat, kommt nicht von ungefähr. Das ist gerade in einer Zeit, in der viele an den Werten der Wirtschaft zweifeln, eine hohe Qualität.
Wie wichtig ist es in diesem Job, politisch gut vernetzt zu sein?
Das kommt darauf an. Die Lösung mit Bührer war eigentlich ein Experiment. Traditionell ging das Präsidentenamt bei Economiesuisse an jemanden, der in der Wirtschaft eine Führungsfunktion einnahm. Lobbying und Öffentlichkeitsarbeit hingegen übernahm der Direktor. Wegen der internen Probleme des Verbandes vor acht Jahren war es damals schwierig, einen Wirtschaftsführer zu finden, den alle akzeptierten. Darum war man der Idee verfallen, einen Politiker zu nehmen. Das Experiment hat sich gelohnt. Aber das heisst nicht, dass es auch für die Zukunft das richtige Modell ist.
Sie gehen davon aus, dass Wehrli und sein Direktor Pascal Gentinetta die Arbeit anders aufteilen werden als Bührer und Gentinetta?
Ja. Wehrli wird – plakativ gesagt – sicher weniger oft in der «Arena» auftreten als Geri Bührer. Meiner Meinung nach muss der Direktor den Verband vor den Medien repräsentieren, der Präsident hingegen gibt die Strategie vor und vertritt die grosse Linie.
Economiesuisse hätte im Ausschuss mehrere ausgewiesene Unternehmer gehabt. Offenbar wollte keiner von ihnen den Job machen. Wieso?
Das weiss ich nicht. Ich würde das auf jeden Fall nicht so interpretieren, als ob das ein Amt wäre, das niemand will. Das sehe ich gar nicht. Ich halte Ruedi Wehrli für eine sehr starke Persönlichkeit innerhalb von Economiesuisse.
Wie hat sich der Einfluss von Economiesuisse in den letzten Jahrzehnten verändert?
In den 60er- und 70er-Jahren galt der Präsident des Vororts, wie der Verband früher hiess, als achter Bundesrat. Heute ist das sicher nicht mehr der Fall. Das hat nichts mit Personen zu tun, sondern eher mit den grossen Trends der Welt. Mit der Globalisierung hat die Schweiz für die grossen Konzerne an Bedeutung verloren. Andererseits hat Economiesuisse heute wieder mehr Gewicht als noch vor einigen Jahren, als man intern sehr zerstritten war. So etwas schwächt jede Organisation.
Ist der Job als Präsident heute weniger attraktiv, weil man weniger Macht hat?
Nein. Wichtiger ist, dass der Chef eines grossen Konzerns diesen Job heute gar nicht mehr nebenher machen könnte. Also muss man einen Verwaltungsratspräsidenten nehmen. Und auch der darf nicht zu oft ausser Landes sein. Das schränkt die Wahl stark ein.
Dieser Artikel erschien im Tages-Anzeiger vom 4. Juli 2012 sowie im Der Bund vom 4. Juli 2012.