Urs Meister, der Bundesrat hat am Freitag seine Energiestrategie vorgestellt. Bis ins Jahr 2035 möchte er den Energieverbrauch pro Kopf um mehr als ein Drittel reduzieren. Orientieren sich die Ziele aus Ihrer Sicht am technisch Machbaren oder am politisch Wünschbaren?
Bis 2035 kann extrem viel passieren. Es ist unmöglich, für solche Zeitspannen sinnvolle Prognosen zu machen. Insgesamt scheint mir das Ziel sehr ambitioniert. Wenn man so lange in die Zukunft plant, kann man natürlich spekulieren und auf technologische Fortschritte hoffen.
Insgesamt basiert also vieles auf Spekulation?
Absolut. Zudem stellt sich die Frage, ob es Sinn macht, ein solches Ziel zu formulieren. Müssen wir überhaupt so viel Energie einsparen? Müssen wir denn nicht sparen? Meister: Vielleicht sorgt der technische Fortschritt dafür, dass 2035 Energie günstig und umweltverträglich zur Verfügung steht. Daneben ist der absolute Verbrauch nicht die entscheidende Grösse. Bereits heute gibt es Zeiten, in denen zu viel Energie auf dem Markt ist, beispielsweise wenn alle Windturbinen auf Hochtouren laufen. Wichtig ist dann vielmehr eine intelligente Anpassung des Verbrauchs.
Sie sprechen von intelligenten Geräten, die den Strom dann brauchen, wenn er verfügbar ist.
Genau. Das aber setzt einen offenen Markt mit zeitnahen Preisen voraus. Der Kunde oder das intelligente Gerät muss wissen, wann der Strom am Markt knapp oder im Überfluss vorhanden ist. Die dazu nötigen Preissignale können aber nur in einem offenen Markt korrekt weitergegeben werden.
Sie plädieren also für mehr Markt in der Stromwirtschaft.
Ja, ein funktionierender Markt ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass bei den Konsumenten effektive Spar und Effizienzanreize entstehen. Wenn umgekehrt die Erwartung da ist, dass der Strom knapp wird, dann werden auch die Investitionsanreize für die Produktion steigen.
Die Angst vieler Konsumenten ist, dass die Strompreise steigen, wenn man den Markt öffnet.
Diese Angst war für die Schweiz in der Vergangenheit vielleicht berechtigt – auch wenn die Preise regional sehr unterschiedlich sind. Zu Beginn der teilweisen Liberalisierung lagen die Energietarife vielerorts zum Teil deutlich unter den europäischen Marktpreisen, weil die Versorger dazu verpflichtet sind, in der Grundversorgung zu so genannten Gestehungskosten zu liefern. Auf lange Frist kann das aber nicht gut gehen. Faktisch ist das eine Subvention für gewisse Strombezüger.
Der Markt sollte also noch konsequenter geöffnet werden?
Die Voraussetzungen dafür sind gut, denn die Preise im europäischen Grosshandel sind im Moment tief und dürften dies auf absehbare Zeit bleiben. Viele Schweizer Kleinverbraucher würden nun von einer Marktöffnung profitieren, bei anderen gäbe es moderate Tarifanpassungen nach oben. Die Schweiz und Italien prüfen bei der Speicherung von Gas eine mögliche Zusammenarbeit. Diese soll Schweizer Unternehmen ermöglichen, sich an der Nutzung von unterirdischen Gasspeichern in Italien zu beteiligen. Wie das Bundesamt für Energie gestern mitteilte, ging es beim jährlichen Energiedialog zwischen der Schweiz und Italien auch um die Förderung erneuerbarer Energien. Beide Seiten begrüssten im Weiteren, dass das Projekt einer Gaspipeline durch die Adria vorangetrieben wird. Die Pipeline, an der auch eine Schweizer Firma beteiligt ist, soll ab 2018 Gas aus Aserbaidschan nach Italien und in die Schweiz transportieren.
Kommen wir zurück zur Strategie des Bundesrates. Finden Sie diese sinnvoll?
Der Bundesrat hat einen Katalog von Massnahmen präsentiert. Welche davon sinnvoll sind, muss im Detail geprüft werden. Insgesamt aber scheint das Vertrauen in die Märkte zu fehlen: Der Bundesrat setzt vor allem auf Subventionen und administrative Feinsteuerung – die Bürokratie wird zunehmen. Ohne funktionierenden Markt ist die Wirkung solcher Instrumente fraglich.
Und was ist mit der Ökologie? Lässt man den Markt spielen, wird einfach in die günstigste Energie investiert, sicher nicht in die sauberste.
Wenn man will, kann man das mit markttauglichen Instrumenten steuern. Zum Beispiel mit den in Europa bereits existierenden handelbaren CO2– Zertifikaten. So verteuert man Energie mit einem hohen CO2-Ausstoss, und erneuerbare Energien werden konkurrenzfähiger. Der Vorteil dieses Instruments liegt darin, dass der Staat die Auswahl der Technologie dem Markt überlassen kann.
Sie finden also die Förderung von erneuerbaren Energien nicht sinnvoll?
Ich bin technologiespezifischen Subventionen gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellt In vielen Fällen versucht man so unter dem Deckmantel der Ökologie Industriepolitik zu machen – etwa wie das in Deutschland mit der Solarindustrie geschehen ist Mit dem Resultat, dass die Branche schliesslich zusammengebrochen ist, weil die Solarzellen nun günstiger in China produziert werden.
Es braucht also keine Förderung der erneuerbaren Energien im Inland?
Die Fokussierung auf das Inland ist ohnehin nicht sinnvoll. Gerade bei relativ attraktiven Technologien wie der Windkraft ist das Potenzial gering. Zudem sind die standortspezifischen Kosten von Wind-, aber auch anderen erneuerbaren Energien in der Schweiz relativ hoch. Warum also unbedingt erneuerbare Energien im Inland fördern?
Vielleicht, um nicht vollkommen vom Ausland abhängig zu sein?
Natürlich ist ein gewisser Anteil an inländisch produziertem Strom wichtig, nur schon für die Stabilität der Netze. Aber die vollständige Stromunabhängigkeit oder -souveränität ist eine Illusion. Wir sind ja schon heute vom Ausland abhängig, vor allem im Winter. Der europäische Markt ist ein zentrales Element der Versorgungssicherheit. In Europa gibt es momentan Überkapazitäten. Ob wir importieren oder selber produzieren wollen, soll der Markt entscheiden, nicht die Politik.
Stichwort Europa: Die Strombranche drängt auf ein Abkommen mit der EU. Besteht die Gefahr, dass wir ohne dieses Abkommen vom europäischen Strommarkt abgekoppelt werden?
Ich glaube nicht, dass wir einfach so vom europäischen Netz abgehängt werden. Die Schweiz ist im Strommarkt gut integriert und ein wichtiges Transitland für den Strom. Dennoch ist ein Abkommen mit der EU wichtig. Dabei geht es etwa um Mitsprache bei europäischen Netzausbauvorhaben, Vereinfachungen des grenzüberschreitenden Handels sowie Investitionssicherheit für inländische Kraftwerkprojekte.
Braucht die Schweiz ein eigenes Gaskombikraftwerk?
Die Frage ist doch, ob es genügend Investitionsanreize gibt für ein solches Kraftwerk. Zurzeit ist ein Gaskombikraftwerk in der Schweiz betriebswirtschaftlich kaum sinnvoll – auch wenn die CO2-Emissionen vollständig mit europäischen Zertifikaten kompensiert werden könnten. Im Falle einer Erholung der Konjunktur in Europa könnte sich das aber ändern.
Die Lösung aller Energieprobleme lautet also schlicht und einfach: mehr Markt?
Es braucht mehr Vertrauen in die Märkte, ja. Und die Preise sollen eine Lenkungsfunktion entwickeln.
Und was halten Sie von einer ökologischen Steuerreform? Lenkungsabgaben, sofern sie denn auch vollumfänglich zurückerstattet werden, sind ja ein sehr marktnahes Instrument.
In der Tat wäre es effizienter, anstelle administrativer Massnahmen zur Verbrauchsreduktion eine Lenkungsabgabe einzuführen und den Rest den Markt entscheiden zu lassen. Der Haken dabei ist, dass eine Lenkungsabgabe auf Strom beispielsweise sehr hoch sein müsste, damit sie wirksam ist Für einkommensschwächere Haushalte könnte das ein Problem werden, falls Teile der Steuererträge künftig doch einbehalten und für Technologiesubventionen verwendet werden. Zudem adressiert die Lenkungsabgabe die absolute Höhe des Verbrauchs. Wie ich schon erwähnt habe, dürfte in Zukunft das Thema der Lastverschiebung wichtiger werden.
Dieses Interview erschien in der «Zentralschweiz am Sonntag» vom 30. September 2012.