Debatten über den Mittelstand gibt es fast überall in der westlichen Welt. Besonders virulent waren sie in letzter Zeit in den USA, wo zwei Präsidentschaftskandidaten um das bessere Rezept zur Rettung der Mittelklasse buhlten. Auch in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Österreich wird über die vermeintliche oder tatsächliche Erosion der Mitte leidenschaftlich gestritten. In der Schweiz läuft die Debatte ruhiger ab. Haben die leiseren Töne aber auch mit einer objektiv besseren Situation des Schweizer Mittelstands zu tun?

Der Schweizer Mittelstand ist tatsächlich ein Sonderfall. Die Löhne für mittlere Qualifikationen sind seit Anfang der 90er-Jahre inflationsbereinigt um immerhin etwa 7% gestiegen. Diese Zunahme mag bescheiden erscheinen, sie hebt sich aber auffallend von den Entwicklungen in vielen Ländern ab, in denen die Mittelschichten reale Kaufkraft verluste hinnehmen mussten. Damit einher geht, dass die weltweit diagnostizierte Erhöhung der Ungleichheit von Einkommen und Löhnen in der Schweiz nur abgeschwächt stattfand.

Hauptgrund dafür ist der relativ flexible Arbeitsmarkt: Eine breite Teilnahme am Erwerbsleben ist Voraussetzung dafür, dass das erwirtschaftete Einkommen nicht zu ungleich verteilt wird. In der Schweiz ist die Partizipation am Arbeitsmarkt mit 85% der arbeitsfähigen Bevölkerung ausgesprochen hoch, und es herrscht Vollbeschäftigung, wenn man vom – allerdings steigenden – strukturellen Arbeitslosensockel absieht. Was vielerorts diagnostiziert und angeprangert wird, wenn auch nicht immer begründet, nämlich die Ausdünnung oder gar der Niedergang der Mittelschichten, ist in der Schweiz nicht auszumachen.

Diese objektive Situation kontrastiert aber auffallend mit der Stimmung in der Mitte der Gesellschaft. Auch im Schweizer Mittelstand ist eine starke Verunsicherung und Unzufriedenheit zu spüren. Sie reicht von Klagen ob ständig steigender Belastungen über Abstiegsängste bis hin zur Empörung über das Verhalten der «oberen Zehntausend». Diese Ausgangslage war für Avenir Suisse Anlass für eine vertiefte Untersuchung des Schweizer Mittelstands. Sie ist vor kurzem unter dem Titel «Der strapazierte Mittelstand – zwischen Ambition, Anspruch und Ernüchterung » erschienen und beleuchtet die vielfältigen Facetten dieser Debatte, von den grossen weltwirtschaftlichen Trends und deren Auswirkungen auf den Mittelstand über die Position der Schweiz im internationalen Vergleich und das Wirken des Staats bis hin zu gesellschaftlichen Veränderungen und Wertvorstellungen. Dabei zeigt sich, dass die Klagen des Mittelstands doch nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, sondern durchaus einen realen Hintergrund haben. In den letzten 20 Jahren haben nämlich nicht nur die Einkommen der «oberen Zehntausend» stärker zugenommen als jene des Mittelstands, sondern – für viele überraschend – auch jene der Unterschicht. Relativ zu den Rändern der Gesellschaft ist der Schweizer Mittelstand also zurückgebunden worden. Da er sich relativ definiert, hat er also an Status verloren. Dazu kommt: Der Staat pflügt den Mittelstand gründlich um. Der obere und mittlere Mittelstand wird durch die staatliche Umverteilungspolitik über Steuern, einkommensabhängige Tarife, Subventionen und Verbilligungen an den unteren Rand der mittleren Einkommen gedrückt. Der Nutzen dieser Politik kommt grossteils der Unterschicht zugute, die beinahe auf das Niveau des unteren Mittelstands gehoben wird.

Dadurch entsteht ein gravierendes Anreizproblem: Die hohe Abgabenlast erschwert dem Mittelstand den wirtschaftlichen Aufstieg, oft verunmöglicht sie ihn sogar. Vor allem in den Grossstädten wurde die Politik wohlmeinender einkommensabhängiger Tarife und Zuschüsse so weit getrieben, dass sich Arbeit für Zweitverdiener (noch immer meist Frauen) oft kaum mehr lohnt. Die Ambition, aufzusteigen – ein Wesensmerkmal des Mittelstands – macht darum oft der Ernüchterung Platz. In einem Land, dessen Staatsverständnis und Selbstbild sich historisch stark aus der Mitte heraus definiert, muss dies zu denken geben. Die hiesige Mittelstandsdebatte ist deshalb keine helvetische Luxusdiskussion: Es braucht allerdings keine eigenständige Mittelstandspolitik – die Abschaffung von Verzerrungen und Hindernissen würde genügen.

Dieser Artikel erschien in «Go! Das Aussenwirtschaftsmagazin» am 13. Dezember 2012. 
Mit freundlicher Genehmigung des «Go! Das Aussenwirtschaftsmagazin».