Steht die Schweiz derzeit vergleichsweise gut da, weil sie liberale Reformen umsetzte oder weil sie sich ihnen verweigerte? Andreas Rieger behauptete unlängst an dieser Stelle (TA vom 6. Juni 2011), unser Land sei «zum Glück widerborstig geblieben». Der Co-Präsident der Gewerkschaft Unia bot eine einfache Erklärung für die günstige Entwicklung der Schweiz nach der Stagnation der Neunzigerjahre: Das Schweizervolk habe nicht auf die Empfehlungen von Reformern wie den Autoren des Weissbuchs «Mut zum Aufbruch» von 1995 gehört. Die «neoliberale Therapie» führe eine Volkswirtschaft ins Verderben, wie das Beispiel Irlands zeige, und Gerhard Schwarz, Mitautor des Weissbuchs und bis letzten Herbst Wirtschaftschef der NZZ, sei nicht müde geworden, «der Schweiz den ‹gälischen Tiger› als Vorbild zu preisen».

Verschärfter Wettbewerb

Mit Verlaub: Für diese Unterstellung findet sich kein einziger Beleg in der NZZ. Und auch die anderen Behauptungen halten einer Überprüfung nicht stand. Die Krise in Irland ist auf eine viel zu lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und allzu unvorsichtige Grossbanken zurückzuführen, deren Probleme Irland nicht so umsichtig gelöst hat wie die Schweiz.

Wer sich an die Fakten hält, der sieht vor allem auch die Entwicklung unseres Landes mit anderen Augen: Die Schweiz steckte in den Neunzigerjahren in einer tiefen Krise. Die Wachstumsschwäche war Folge der vorhergehenden Immobilienblase, der nach der Überhitzung rigiden Geldpolitik sowie einer Arbeitsmarktpolitik, die auf schlecht qualifizierte Billigarbeitskräfte setzte. Gleichzeitig suchte die Schweiz nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ihren Platz in einer Welt, die sich rasant globalisierte und liberalisierte.

Wie sich die Chancen nutzen liessen, zeigte Irland: Als armes, junges Land, aus dem die Menschen früher ausgewandert waren, zog es mit einer liberalen Wirtschaftspolitik Konzerne an und schuf Tausende von Arbeitsplätzen. Die Schweiz als reiches, alterndes Land konnte beim Wachstum mit Irland oder den Tigerstaaten nicht mithalten – das wussten die liberalen Vordenker. Aber sie fürchteten, die Schweiz könnte beim Wohlstand zurückfallen und angesichts eines sich verschärfenden Wettbewerbs auf Strukturerhaltung setzen. «Eine solch defensive Haltung würde letztlich die weitere Erosion unseres Wohlstandes und die Vernichtung von immer mehr Arbeitsplätzen bedeuten», schrieben sie in «Mut zum Aufbruch».

Die Linke schaffte es 1995 nicht, die Debatte um liberale Reformen völlig zu ersticken. Aber das Volk lehnte tatsächlich einige liberale Vorlagen ab; schwierige Probleme wie jene der AHV und der beruflichen Vorsorge sind deshalb noch immer ungelöst. Professor Ernst Baltensperger schrieb denn auch in seiner Analyse «Mut zum Aufbruch? 10 Jahre danach», die Schweiz stünde heute besser da, hätte man sich 1995 ernsthaft und offen mit dem Weissbuch befasst, statt es in billiger Polemik zurückzuweisen. Dennoch geht es der Schweiz besser als praktisch allen anderen Ländern Europas, darunter viele der Substanz nach sozialdemokratisch regierte. Den Spitzenplatz verdankt sie ihrem oft beklagten, sehr speziellen politischen System und – ausgerechnet – so manchen liberalen Reformen im Geiste des Weissbuchs.

Arbeitslosigkeit tief gehalten

Wer «Mut zum Aufbruch» heute liest, staunt, wie viel von diesem angeblich «falschen Therapieprogramm» unseren Alltag prägt. Das Wachstumsprogramm des Bundes, das auf Liberalisierung setzte, hat die Schweiz wirtschaftlich stärker gemacht, und die Sozialpolitik richtet sich, wie vom Weissbuch gefordert, stärker auf die «wirklich Bedürftigen» aus. Dank der Schuldenbremse steht die Schweiz als eines von wenigen Ländern nicht mit einer untragbaren Verschuldung da. Die Personenfreizügigkeit mit der EU gilt, wenn auch mit flankierenden Massnahmen, und dank dem flexiblen Arbeitsrecht bleibt die Arbeitslosigkeit tief. Solchen Reformen verdankt die Schweiz ihren relativen Vorsprung. Der Geist defensiver Besitzstandswahrung aber gefährdet ihren Wohlstand weiterhin.

Dieser Artikel erschien im Tages Anzeiger vom 15. Juni 2011