Es ist nachgerade ein Gemeinplatz, dass im Gefolge der Finanz- und Wirtschaftskrise die Zweifel an der freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung, in der wir leben, überall aus dem Boden spriessen. Es ist ja wahrlich nicht alles gut auf dieser Welt. Ein Teil lebt in grossem Wohlstand, ja Überfluss, was einem gerade im Konsumrausch des Weihnachtsgeschäfts wieder besonders bewusst geworden ist. Ein anderer, grösserer Teil lebt in Armut oder gar im Elend. Und die Menschen auf der ganzen Welt egal, in welcher Ordnung sie leben tun das, was sie seit Jahrtausenden tun, sie lieben und hassen, sie üben Macht aus, und sie helfen den Schwachen, sie sind genügsam und gierig, geizig und grosszügig, bescheiden und überheblich, grausam und voller Mitgefühl, sie sind, wie es Blaise Pascal ausgedrückt hat «ni ange, ni bête», aber sie tragen ein wenig von beidem in sich, und sie leben es je nach Situation und Charakter unterschiedlich aus. Diese Welt der Menschen war nie ein Paradies, und sie wird nie eines werden.

Doch der Traum, ein Paradies auf Erden schaffen zu können, ist wohl so alt wie die Menschheit. Bei den einen ist dieser Traum mit Nostalgie verbunden, mit der Sehnsucht nach einem vermeintlich verloren gegangenen Urzustand. Bei den anderen ist er eher zukunftsgerichtet und gipfelt in der Konstruktion von Utopien, in denen Gerechtigkeit und Moral herrschen beziehungsweise das, was sie sich darunter vorstellen.

Spätestens seit Karl Poppers grossartiger Abrechnung mit Platos idealem Staat sollten wir aber wissen und Ralf Dahrendorf hat dies ebenfalls immer wieder dargelegt , dass das Streben nach «idealen» Ergebnissen zwingend in den Totalitarismus und in die Erstarrung führen muss. Man kann natürlich den liberalen Entwurf einer Gesellschaft ebenfalls als utopisches Ideal verstehen, aber dieses Ideal ist eines der klugen Regeln, nicht der wie immer definierten richtigen, guten oder gerechten Ergebnisse.

Der Liberalismus ist ergebnisoffen. Das ist nicht Fatalismus, sondern Realismus, und es entspricht der Natur des Menschen mehr als das Prokrustesbett der Gleichmacherei. Deshalb wird es in einer freiheitlichen Gesellschaft in der Tat mehr Krisen, mehr Ungleichheit, mehr Unbefriedigendes und Unperfektes geben, als das dem fast natürlichen menschlichen Hang zum Steuern, zum Machen und zur Perfektion entspricht.

Aber zugleich wird eine solche ergebnisoffene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gleichwohl weniger schlechte Ergebnisse hervorbringen als eine, die von jener konstruktivistischen Anmassung beseelt ist, die zumal vielen Intellektuellen eigen ist. Der Schriftsteller Lukas Bärfuss hat unlängst in einem Artikel im «Bund» sowie im «Tages-Anzeiger», in dem er mehrfach auf einen Leitartikel von mir in der «Neuen Zürcher Zeitung» Bezug nimmt, wohl stellvertretend für viele dem verständlichen Leiden an der ökonomischen Realität und der Sehnsucht nach einer besseren Welt und nach besseren Menschen wortgewaltig Ausdruck verliehen. Er verheddert sich dabei jedoch in einigen jener Fallstricke, die beim Nachdenken über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung überall lauern.

Alternativen?

Zu ihnen zählt ganz besonders der unausrottbare Glaube, es gebe so etwas wie einen Dritten Weg zwischen Planwirtschaft und Marktwirtschaft. Natürlich sind real existierende Wirtschaftsordnungen voller Widersprüche, sie sind keine theoretischen Konstrukte. Und in jedem Land sieht die konkrete Ausgestaltung der Marktwirtschaft, die ja nie eine «freie» ist, sondern sich innerhalb gewisser Regeln abspielt, wieder etwas anders aus. Deshalb behauptet auch niemand, es gebe zur jeweils konkreten Wirtschaftsordnung in einem Land keine Alternative. Sonst würde man ja nicht über Reformen und Wandel debattieren. Aber jede Alternative hat ihren Preis. Und wir wissen aus Theorie und Erfahrung, dass der real existierende Sozialismus in all seinen Spielarten den Menschen in den jeweiligen Ländern vor allem Armut, Leid und Unterdrückung gebracht hat und dass die Umweltkatastrophen in der alten Sowjetunion System hatten und nicht Unfälle im System waren. Wir wissen, dass Protektionismus den Ländern, die sich «schützen», auf Dauer Wohlstandsverluste bringt, wir wissen, dass es zum Prinzip der offenen Wirtschaft und des freiwilligen Tausches keine bessere Alternative gibt und dass das zwar polemische Diktum von Vaclav Klaus, der Dritte Weg sei der schnellste Weg in die Dritte Welt, deshalb seine Berechtigung hat.

Zu den Fallstricken zählt auch ein Freiheitsbegriff, der von Bärfuss gleich in mehrere Richtungen verbogen wird. So versteht er, erstens nicht nur alle willkürlichen, menschengemachten Einschränkungen, sondern auch alle natürlichen Begrenzungen als illegitime oder jedenfalls zu überwindende Unfreiheit. Un- frei ist in diesem Verständnis, wer nicht tun und lassen kann, was er will, wer nur über begrenzte Mittel verfügt, wer Rück- sicht nehmen muss, wer keine «komfortable Stallfütterung» (Wilhelm Röpke) erhält, sondern auf freier Wildbahn das Futter suchen muss, mit all den Risiken, die damit verbunden sind. Damit wird, mit Verlaub, der Freiheitsbegriff auf den Kopf gestellt.

Zweitens behauptet Bärfuss, die Freiheit diene der Funktionstüchtigkeit der Marktwirtschaft, nachdem er nur wenige Sätze vorher das Gegenteil schreibt, nämlich dass sie für Liberale ein Ideal sei, das durch sich selbst gut sei, und nicht wegen der Folgen, die wir ihr verdanken. Letzteres ist richtig. Freiheit ist in der Tat an sich wertvoll, was man wohl erst dann wirklich begreift, wenn sie einem genommen worden ist.

Nicht von ungefähr findet man die überzeugtesten Liberalen in Europa heute auf der östlichen Seite des Kontinents, wo jahrzehntelang Planwirtschaft und damit zwingend einhergehende Diktatur praktiziert wurde. Dass die Freiheit zugleich auch Wohlstand generiert, ist gewissermassen ein willkommener Nebeneffekt. Dass heute etwa zehnmal so viel Menschen auf der Erde leben wie vor dreihundert Jahren (und nicht etwa elender als damals), dass der Wohlstand in Mitteleuropa heute etwa fünfundzwanzigmal so hoch ist wie damals und die Lebenserwartung bei der Geburt etwa dreimal so hoch, verdanken wir jedenfalls in Summe einer freien Ordnung und weder dem Sozialismus noch irgendwelchen Dritten Wegen. Aber man müsste die Freiheit eben auch verteidigen, wenn sie dem Wohlstand nicht so offenkundig dienlich wäre.

Jeder nach seiner Façon

Und schliesslich ist, drittens, auch ein Freiheitsbegriff fragwürdig, der postuliert, das tun zu können, was man tun soll. Denn was man tun soll, ist in einer offenen Gesellschaft eben letztlich eine individuelle Gewissenssache. Weder Kirche noch Staat können und sollen das vorschreiben.

Die moralische Qualität einer freien Gesellschaft liegt nicht darin, dass alle tun können, was sie nach irgendeiner kollektiven Instanz tun sollen, sondern sie liegt in der Freiheit, sittlich handeln zu können oder eben auch nicht, sie liegt im Appell, für sich und die Seinen Verantwortung zu übernehmen, sie liegt in der Innovation, die aus der Vielfalt und den Experimentiermöglichkeiten erwächst, und sie liegt eben in der Möglichkeit, «nach seiner Façon selig zu werden», nicht nur im religiösen Sinne.

Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Verantwortung bedeutet gerade in und nach dieser Krise, nicht einer Schlaraffenland-Vision der Welt zu erliegen und zu meinen, mit Umverteilung und rigoroser staatlicher Kontrolle könne man Wohlstand für alle, moralisches Verhalten und Gerechtigkeit erzwingen. In der realen Welt der Knappheit der Gü-ter, der Ideen, der Zeit und des Geldes, in der realen Welt der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und mit ihren Stärken und Schwächen heisst Verantwortung wahrnehmen nicht zuletzt Unternehmertum, Kreativität, Gewinnerzielung, Akkumulierung von Kapital, Steigerung der Produktivität.

Eine Gesellschaft, die all dies zulässt und fördert, die zwar einen einfachen und durchsetzbaren Ordnungsrahmen setzt, aber die nicht glaubt, das komplexe Gebilde Wirtschaft und Gesellschaft im Detail regeln und die Menschen gängeln zu können, ist wohl das Maximum, das wir von dieser Welt und in dieser Welt erwarten können. Es ist zwar viel weniger als das, was man sich erträumen mag, aber es ist nicht wenig, wenn man bedenkt, welche Freiheitsgewinne für die Masse der Bürgerinnen und Bürger und welche materiellen und technischen Fortschritte dank der Marktwirtschaft in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren möglich geworden sind.

Dieser Artikel erschien in «Das Magazin» vom 15. Januar 2011.