Die heutige Konsumentenpolitik ist anachronistisch und droht die Konsumentensouveränität in kleinen Schritten auszuhöhlen – eine «Regulierungs- und Bevormundungsbremse» tut not.
Konsumentenschutz umfasst die Gesamtheit aller Massnahmen, mit denen die Menschen durch den Staat in ihrer Rolle als Verbraucher geschützt werden sollen. Was sich zunächst als harmlose Definition anhören mag, hat es in sich: Vom «Konsumentenschutz» ist heute beinahe jeder Lebensbereich betroffen, nicht etwa nur der Bereich der Gesundheit und Produktesicherheit – wo man dies allenfalls noch erwarten würde –, sondern vom Bestattungswesen über die Hotellerie, den Optiker und die Seilbahnen auch die Energieeffizienz, die Nachhaltigkeit oder die Lebensmittelabfälle.
Das Zerrbild des wehrlosen Konsumenten
Aber braucht es diesen umfassenden Schutz des Konsumenten in jeder erdenklichen Lebenslage? Traditionell werden staatliche Massnahmen zugunsten der Konsumenten mit einem Informationsungleichgewicht zwischen den Verbrauchern und den Anbietern von Gütern und Dienstleistungen begründet. Der Konsument stellt gemäss dieser Auffassung das schwächste Glied im Wirtschaftssystem dar; er müsse daher vor Benachteiligung, Ausnutzung und Übervorteilung durch besser informierte Dritte bewahrt werden. Dieses Bild des wehrlosen Konsumenten war schon immer ein Zerrbild und entspricht in der heutigen Informationsgesellschaft erst recht nicht mehr der Realität. Die Digitalisierung unseres Lebens hat zu einem «Consumer Empowerment» in bis anhin ungesehenem Ausmass geführt: Informierten sich die Schweizer Konsumenten früher vor allem über Fernsehen, Radio und Printmedien, ist heute das Internet zu ihrer zentralen Informationsquelle avanciert – es gibt kaum mehr Konsumentscheide, die ohne eine Internet-Recherche zustande kommen. Generell, die Digitalisierung der Gesellschaft hat die Suchkosten für Informationen jeglicher Artmassiv gesenkt und die Informationsdichte stark erhöht. Informationsungleichgewichte rechtfertigen also je länger je weniger staatliche Konsumentenschutzmassnahmen. Bis dato reflektiert sich dieser Bedeutungsverlust staatlicher Konsumentenpolitik jedoch kaum im Gesetzgebungsprozess. Mit durchschnittlich beinahe 60 Gesetzesänderungen pro Jahr, die im Namen der Konsumenten vorgenommen werden, verharrt die Regulierungstätigkeit des Bundes auf konstant hohem Niveau (vgl. Abbildung). Und nur zu oft wird als Rechtfertigung das Argument angeführt, die Konsumenten seien mit der explodierenden Auswahl an Produkten und Dienstleistungen sowie mit der Informationsflut überfordert und müssten deshalb vom Staat (sanft) an die Hand genommen werden. Ein «Kindermädchenstaat», der vorgibt zu wissen, was gutes Konsumverhalten darstellt und was nicht, lässt sich jedoch nicht mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung vereinbaren.
Avenir Suisse präsentiert Reformvorschläge
Die eben erschienene Avenir-Suisse-Publikation «Gefährdete Konsumentenfreiheit» zeigt auf, wie die in den letzten Jahren – dank Wettbewerb, Innovation und Handel – dazugewonnen Konsumentenfreiheit durch die Regulierungstätigkeit des Staates gefährdet wird und präsentiert Reformvorschläge, wie diesem unheilvollen Trend entgegengetreten werden könnte.
Falsche Fürsorglichkeit
Gemessen am rücksichtslosen Eingreifen des Staates in das (Privat-)Leben der Menschen in Diktaturen, wie sie bis vor 30 Jahren in weiten Teilen Europas herrschten, wirken die heute propagierten Versuche, die Menschen zu einem bestimmten Verhalten bloss zu «schubsen» und nicht zu zwingen, geradezu liberal. Was soll schon dabei sein, wenn die Bürger «in ihrem ureigensten Interesse» sanft zu gesundem Leben oder zum Verzicht auf grosse Risiken (bei den Finanzen oder im Sport) hingeführt werden? Und so erfreut sich «Nudging» neuerdings bei Politikern vor allem in Grossbritannien und Deutschland grosser Beliebtheit. Doch aufgepasst: dieses «Schubsen» ist selten so harmlos, wie es die von den Anhängern von «Nudging» gerne präsentierten Beispiele suggerieren. Viel öfter handelt es sich um fragwürdige Eingriffe. Warum? Zu meinen steht dahinter die Vorstellung, Inkonsistenzen und «Fehlentscheide» müssten im Interesse der Betroffenen verhindert werden. Zum andern liegt dem «Schubsen» die Überzeugung zugrunde, Aussenstehende wüssten, welches Handeln «richtig» ist und was die Menschen wirklich wollen. Das bleibt Anmassung. Auch wenn manche Menschen bereuen, dass sie rauchen, zu viel essen, Alkohol trinken oder zu wenig Sport betreiben, ist solch staatliche Fürsorglichkeit einer freiheitlichen Gesellschaft wesensfremd und bleibt Bevormundung – selbst wenn sie sanft daherkommt. Die Freiheit muss ihre Grenzen an der Freiheit der Mitmenschen finden. Sie dürfen keinen Schaden erleiden. Selbstschädigung hingegen muss jede und jeder selbst verantworten.
Dieser Artikel erschien in der «Zürcher Wirtschaft» vom September 2015.