Im Alltag ist Strom einfach da. Man führt den Stecker in die Steckdose und das Gerät läuft. Sind sich die Menschen moderner Gesellschaften eigentlich bewusst, welchen Stellenwert die Energie im Alltag hat?
Ich glaube schon, dass ein gewisses Bewusstsein vorhanden ist. Strom ist ja nicht die einzige Form der Energie. Der Mensch kommt in vielen Lebensbereichen mit Energie in Kontakt. Fährt man an die Tankstelle und tankt Benzin, dann wird einem der Wert der Energie spätestens an der Kasse bewusst. In letzter Zeit ist das Thema Energie wieder stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt, sei dies durch steigende Energiepreise, sei dies jüngst durch die AKW-Katastrophe in Japan.
Dennoch war in den vergangenen Jahren die Energiesicherheit in Westeuropa eher hoch.
Das trifft im Wesentlichen zu, allerdings gab es auch Ausnahmen. Gerade Europa war in den vergangenen Jahren mit realen Versorgungsrisiken konfrontiert. So schlug sich Anfang 2009 der russisch-ukrainische Gaskonflikt in einigen osteuropäischen Ländern in einer spürbaren Gasknappheit nieder. Die Verknappung wurde diesen Ländern sehr wohl bewusst. Gas hat im europäischen Energiemix eine sehr hohe Bedeutung, nicht nur bei der Wärme-, sondern auch bei der Stromproduktion.
Führt eine kritische Situation wie eben in Fukushima zu einer Stärkung der langfristigen Ausrichtung der Energiepolitik? Oder verleitet sie die Regierungen zu kurzsichtiger, wankelmütiger Politik?
Eine langfristige Ausrichtung der Energiepolitik wäre wichtig, denn die nötigen Investitionen in die Energieversorgung sind sehr langfristig, vor allem bei Kraftwerken, den Netzen und auch beim Ausbau von Öl- und Gasförderkapazitäten. Es lässt sich auf Seiten der Politik durchaus eine gewisse Hilflosigkeit feststellen. Regierungen und Parlamente denken in vergleichsweise kurzen Zyklen – von Wahl zu Wahl, von Abstimmung zu Abstimmung. Wer aber über den Bau von Kraftwerken mit Laufzeiten von 30, 40 oder mehr Jahren entscheidet, muss langfristiger denken als bloss an eine Legislaturperiode.
Wer lenkt und steuert eigentlich die Energieversorgung?
Der Energiemarkt hat sich stark gewandelt: Er ist in Europa zu einem grossen Teil liberalisiert worden und so sind es private Unternehmen, die letztlich die Ziele der Energiepolitik umsetzen und dabei auch eigene Interessen verfolgen. Die Steuerungsmöglichkeiten des Staates sind insofern begrenzt. Man sieht das beispielsweise in der europäischen Gasversorgung beim Ausbau von Pipeline-Strukturen, wo sich Interessen der Unternehmen und der Staaten bzw. der Europäischen Union ab und zu in die Quere kommen.
Ist die Liberalisierung ein Vorteil oder ein Nachteil für die Versorgungssicherheit?
Aus meiner Sicht auf jeden Fall ein Vorteil. Dies aus zwei Gründen: Erstens entstehen dadurch die nötigen Preissignale, welche nicht nur Anreize für Netz- und Kraftwerkinvestitionen schaffen, sondern auch die Konsumenten dazu anhalten, sparsamer und vor allem effizienter mit der Energie umzugehen. In den vergangenen Jahren haben gerade im Strombereich vielerorts subventionierte Tarife, die unter den Marktpreisen lagen, zu Verzerrungen bei der Produktion wie beim Konsum geführt. Und zweitens entstehen im liberalisierten Markt stärkere Anreize für den Handel. Mit dem dafür nötigen Ausbau der Netze gehen positive Effekte für die Versorgungssicherheit einher. So kann fehlende oder temporär kostspielige Stromproduktion in einem Land durch Lieferungen aus einem anderen Land kompensiert werden.
Sie haben erwähnt, dass die Spielräume von Staat und Politik in der Energiepolitik gar nicht so gross sind. Dennoch kann Deutschland oder die Schweiz beschliessen, aus der Kernenergie auszusteigen. Politisch kann man mit einem Federstrich aussteigen. Ist es wirtschaftlich auch so einfach?
Gerade bei der Kernkraft sind es letztlich politische und demokratische Prozesse, welche über den Einsatz dieser Technologie entscheiden. In jedem Fall ist ein Ausstieg mit Opportunitätskosten verbunden. Es braucht alternative Kraftwerke oder steigende Stromimporte. Die zweite Option mag für ein kleines Land, welches gut in einen internationalen Markt integriert ist, eine mögliche Strategie darstellen. Allerdings gehen mit steigender Importabhängigkeit auch höhere Risiken für die Systemstabilität einher. Es gibt natürlich auch Alternativen zur Kernkraft, schliesslich betreibt ja schon heute nicht jedes europäische Land Kernkraftwerke. Kernenergie ist zwar ein Teil des Produktionsmixes, aber weltweit betrachtet sind es vor allem fossil-thermische Kraftwerke, also Gas- und Kohlekraftwerke, die den Strom produzieren. Aus technischer Sicht könnten solche Kraftwerke auch in der Schweiz gebaut werden. Ob es auch sinnvoll wäre, ist eine andere Frage.
Ist es klug, Atomstrom nicht mehr im eigenen Land zu produzieren, nur um ihn dann aus einem Nachbarland zu importieren, beispielsweise aus Frankreich?
Egal, ob das nun klug ist oder nicht – die Schweiz macht das schon heute. Die Situation stellte sich für uns bereits vor Jahren, als die Schweiz auf den Bau des Kernkraftwerkes Kaiseraugst verzichtete. Damals investierten Schweizer Energieunternehmen in französische Kernkraftwerke und sicherten sich so zusätzlichen französischen Atomstrom. Im Grunde handelt es sich dabei um eine Importstrategie. Aus handelstheoretischer Sicht kann das durchaus optimal sein, solange es andere Länder gibt, die bessere Standorte haben oder die aus politisch-gesellschaftlichen Gründen über eine höhere Akzeptanz der Kernkraft verfügen und diese weiter ausbauen können. Es bestehen jedoch technische Grenzen für den Stromimport. Die Netz- bzw. Systemstabilität verlangt ein Mindestmass an Produktionskapazitäten, die im Inland nahe bei Verbrauchszentren liegen sollten. Solange aber die Voraussetzungen für eine stabile Versorgung gegeben sind, dürften zusätzliche Stromimporte – aus ökonomischer Sicht – besser sein als der Ausbau hoch subventionierter Energien.
Mit hoch subventionierten Energien meinen Sie die alternativen Energien?
Ökonomisch betrachtet, gibt es grosse Unterschiede innerhalb der alternativen Energien. Im europäischen Strommix kann heute vor allem Onshore-Windkraft schon fast zu Marktpreisen produziert werden und ist damit wirtschaftlich interessant. Hoch subventioniert ist aber nach wie vor die Photovoltaik, trotz zuletzt feststellbaren Kostensenkungen. In der Schweiz sind die Ausbaumöglichkeiten für Windkraft relativ gering. Also müsste man hier wohl auf die Photovoltaik setzen, was ausserordentlich teuer wäre.
Was hiesse, dass mit der Photovoltaik die Wettbewerbsfähigkeit der Gesamtwirtschaft beeinträchtigt wird?
Ja, so ist es. Speziell Industriebereiche mit sehr strom- respektive energieintensiver Produktion würden unter hohen Endkundentarifen leiden, die sie dann zu tragen hätten.
Sie gehen davon aus, dass die Kernkraft durch fossilthermische Anlagen ersetzt wird und nicht durch erneuerbare Energien. Weshalb?
Aus ökonomischen wie aus technischen Gründen. Wind- und Sonnenenergie sind stochastische Energiequellen. Sie sind vom Zufall der Natur abhängig. Noch sind die Netze nicht auf grössere Mengen dieses Stroms ausgerichtet. Es bedarf neben zusätzlichen Netzkapazitäten auch eines Ausbaus von Speichern und flexibel einsetzbaren Kraftwerken.
Mit andern Worten: Erneuerbare Energien benötigen zunächst einmal erhebliche Vorlauf- und Investitionskosten.
Ja, und genau das macht die Sache schwierig. Der finanzpolitische Spielraum für die Förderung neuer Technologien ist in Europa derzeit wegen der riesigen Staatsverschuldung sehr begrenzt. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass viele Länder, darunter auch Deutschland, zumindest während einer Übergangszeit schwergewichtig auf fossil-thermische Kraftwerke setzen. Es deutet manches darauf hin, dass in der Stromproduktion neben Steinkohle in der mittleren Frist vor allem Gas ein noch stärkeres Gewicht erhalten wird.
Ab wann wären denn die erneuerbaren Energien bereit, einen grösseren Anteil am Energiemix zu übernehmen?
In Jahren lässt sich dies nicht beziffern, weil zu viele unbekannte oder nur schwer bestimmbare Parameter im Spiel sind. Auf der einen Seite verlangt der Ausbau erneuerbarer Energien zusätzliche Netzinfrastrukturen. Das kann dauern. In vielen Ländern benötigt der Netzausbau mehr Zeit als der Bau neuer Kraftwerke. Auf der anderen Seite fehlen bei den stochastischen Energien gute Speichermöglichkeiten. Schwer abzuschätzen ist auch, welche Rolle ein flexiblerer Stromkonsum im Zusammenhang mit intelligenten Netzen spielen kann. Das Stichwort heisst hier: Smart Grids. Ausserdem kann es bei vielen neuen erneuerbaren Energien noch Jahre dauern, bis sie tatsächlich am Markt konkurrenzfähig sind. Das hängt nicht nur von ihren Kosten, sondern auch von den Preisen am Strommarkt ab. Und diese hängen ihrerseits von diversen Faktoren ab wie Kohle-, Gas- und CO2-Zertifikatspreisen.
Stichwort Energienetze: Was ist der Vorteil von Smart Grids?
Der Preismechanismus könnte sich mit Smart Grids bis hin zum Kunden auswirken. Heute haben die Kunden einen fixen Preis und stellen ihren Konsum nicht auf kurzfristige Preisänderungen ein. Im Grosshandel aber sind Preisschwankungen wegen der stochastischen Produktion von Wind und Sonne bereits jetzt Realität. Starker Wind lässt nicht selten die Preise an den Strombörsen einbrechen. Mit Smart-Grid-Technologien und flexiblen Tarifen könnte auch der Endkunde davon profitieren. Die Anpassung des Verbrauchs an die Verfügbarkeit von Strom hätte zudem positive Nebeneffekte für die Systemstabilität.
Hat uns die AKW-Katastrophe in Japan in der Energiepolitik und in der Energieversorgung zurückgeworfen?
Die Auswirkungen von Fukushima lassen sich noch nicht abschliessend beurteilen. Vielleicht neigen wir in der Schweiz und auch in Deutschland dazu, dieses Ereignis zu stark zu gewichten. Beide Länder stehen gegenwärtig vor grossen Weichenstellungen, weil die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu Ende gehen bzw. verlängert werden sollten. Deshalb ist klar, dass die Ausstiegsdiskussion einen zeitlichen wie inhaltlichen Anknüpfungspunkt hat. Im übrigen Europa hatte der Unfall bisher eher bescheidene Auswirkungen auf die Energiepolitik. Dies nicht zuletzt deshalb, weil in den meisten Ländern ohnehin vor allem fossil-thermische Kraftwerke geplant und gebaut werden. Nicht ganz auszuschliessen ist jedoch, dass die Ereignisse in Japan mittelfristig Veränderungen bei der Kernenergietechnik nach sich ziehen. So könnte die Entwicklung von neuen Kraftwerkstypen beschleunigt werden, beispielsweise Kernkraftwerke der vierten Generation.
Also sollte man die Kernkraft noch nicht abschreiben?
Nein, ganz und gar nicht. Diese Technologie hat ihre Stärken. Sie stösst beispielsweise kein CO2 aus, was im Moment aber wenig Beachtung findet. Derzeit blicken fast alle ausschliesslich auf das Risiko, das vielen Menschen als zu gross erscheint. Sollte jedoch das Unfallrisiko neuer Kernkraftgenerationen bedeutend geringer sein, dann werden Attraktivität und vor allem gesellschaftliche Akzeptanz für diese Technologie wieder zunehmen – vorausgesetzt, dass die Kosten neuer Kraftwerke so tief sind, dass sie am Markt konkurrenzfähig sind.
Vor der Havarie in Japan war in der Energiediskussion die Klimafrage zentral. Wenn nun aber die Kernkraft vor allem durch fossil-thermische Anlagen ersetzt wird, ist dies klimapolitisch ein Rückschritt. Oder sind diese neuen Anlagen umweltpolitisch weniger bedenklich als die üblichen Kohlekraftwerke?
Moderne Generationen von Kohle- und Gaskraftwerken haben relativ hohe Wirkungsgrade und stossen entsprechend weniger CO2 aus. Sie benötigen für die gleiche Energieproduktion deutlich weniger Kohle oder Gas als früher. Natürlich bleibt aber unter dem Strich ein höherer Ausstoss an CO2, wenn wir Kernkraftwerke durch fossil-thermische Kraftwerke ersetzen. Die Diskussion um Klimaziele und um CO2-Reduktionen ist aber nicht nur wegen der Ereignisse in Japan in Vergessenheit geraten. Durch die konjunkturellen Probleme und durch die Staatsverschuldung in vielen Ländern ist sie viel stärker zurückgeworfen worden. Die Umsetzung strikter Klimaziele führt notwendigerweise zu höheren Kosten, entweder beim Staat aufgrund von Subventionen für Förderprogramme oder beim Verbraucher wegen höherer Energiepreise. Viele Länder können sich das gegenwärtig schlicht nicht leisten. In den USA und in Europa ist man derzeit vor allem mit den Staatsschulden beschäftigt. Und Schwellenländer mit hohem Wirtschaftswachstum haben wenig Interesse an einem ambitiösen Kyoto-Nachfolgeabkommen, da sie in ihrer Entwicklung eingeschränkt würden.
Sie weisen immer wieder darauf hin, dass ein Land den Energiebedarf am besten auf viele Quellen abstützt. Was sind die Vorteile der Diversifikation?
Eine Diversifizierung verhindert Klumpenrisiken bei der Energieproduktion. In Frankreich, das beim Strom einseitig auf Kernenergie setzt, kann es aufgrund von Trockenheit und tiefen Pegelständen der Flüsse zu Kühlproblemen kommen, die dann vielerorts ein Herunterfahren von Kernkraftwerken nötig machen. Sobald dies eintritt, ist Frankreich auf Importe angewiesen. In vielen anderen Ländern schafft der einseitige Ausbau von Gaskraftwerken Klumpenrisiken. Schliesslich bestehen bei der europäischen Gasversorgung nach wie vor Unsicherheiten. Diversifizierung ist das beste Mittel gegen Versorgungsrisiken. Um die damit einhergehenden Kosten möglichst gering zu halten, kann es sinnvoll sein, die Diversifizierung nicht länderspezifisch, sondern in einem grösseren Kontext zu realisieren. Schliesslich sind die Kosten unterschiedlicher Kraftwerkstypen je nach Standort verschieden. Das aber setzt eine starke internationale Vernetzung der Energieversorgungen voraus.
Welche Technologien werden sich in der Energieproduktion mittel- und langfristig durchsetzen?
In vielen Bereichen wird geforscht. Welche Technologien sich langfristig tatsächlich am Markt durchsetzen, ist heute kaum abzuschätzen. Für mich als Ökonom ist die Frage nach der Technologie sicher nicht zentral. Viel wichtiger ist das institutionelle Umfeld. Es braucht die richtigen Preissignale, damit an neuen und effizienten Technologien geforscht und auch entsprechend investiert wird. Dennoch diskutiert die Politik am liebsten über das Potenzial bestimmter neuer Energien und etabliert Förder- und Subventionsinstrumente. Das verlangt eine gezielte Auswahl von Technologien, was wiederum mit Marktverzerrungen verbunden ist. Häufig wird dabei die Energie- zur Industriepolitik. Im politischen Prozess setzen sich auch Technologien durch, die wenig effizient sind und nur geringes Potenzial haben. Der Staat sollte deshalb keine einzelnen Technologien fördern, sondern vielmehr die Grundlagenforschung an Hochschulen und Universitäten unterstützen.
Anders gefragt: Welche Energiequelle könnte in den nächsten Jahren den Markt stark beeinflussen?
In absehbarer Zeit dürfte das vor allem Gas sein. Momentan ist relativ viel Gas vorhanden. Es gibt neue Fördermethoden, die es erlauben, unkonventionelle Ressourcen deutlich günstiger als bisher zu fördern. Mit dem steigenden Angebot geraten auch die Preise – die sich bisher stark am Öl orientierten – unter Druck. Die hohe Verfügbarkeit von Gas sowie der steigende Bedarf an flexibel einsetzbaren Kraftwerken führen dazu, dass Gas in den nächsten Jahren ein viel stärkeres Gewicht im Stromproduktionsmix erhalten wird. Relativ günstiges Gas wird gleichzeitig für tiefe Strompreise sorgen, was hingegen die Wirtschaftlichkeit anderer alternativer Technologien in Frage stellt, von denen viele bisher glaubten, dass sie schon bald rentabel sein würden.
Das beste Rezept wäre also zukunftsoffen zu bleiben, keine einzelne Technologie zu bevorzugen und vermehrt auf marktwirtschaftliche Impulse zu bauen. Und dann gäbe es weniger Grund Untergangspessimismus zu verbreiten?
Ich habe tatsächlich ein gewisses Vertrauen in die Märkte und in die Entwicklung neuer Technologien. Werden die fossilen Energierohstoffe Öl, Gas und Kohle knapp oder sind sie nur mit hohen Kosten zu fördern, so steigen die Preise. Als Verbraucher müssen wir künftig bereit sein, mehr zu bezahlen. Wir können nicht bis in alle Zukunft davon ausgehen, dass die Energie so günstig ist wie heute. Hohe Preise der fossilen Energien werden aber dafür sorgen, dass viele neue Technologien am Markt rentabel werden, darunter werden mit Sicherheit auch erneuerbare Energien sein. Dieser marktwirtschaftliche Mechanismus gibt uns ein gewisses Vertrauen in die Zukunft. Und die Sicherheit, dass uns das Licht auch in der langen Frist nicht einfach ausgeht.
Dieses Interview wurde in «ahead», Ausgabe 03/2011 von Clariden Leu publiziert.